Al-Ġazālī: metaphorische Auslegung (taʾwīl) bei Konfliktfällen mit der Naturwissenschaft - aus dem zweiten Vorwort der "Inkohärenz der Philosophen"

Sie ist eine der theologischen Grundfragen aller Schriftreligionen: Was bedeutet es, wenn der Wortlaut heiliger Texte, die von der Natur handeln, im Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Erklärungen geraten, für die es überzeugende Belege gibt? Es folgt nun meine Übersetzung einer Antwort von Imam al-Ġazālī (gest. 1111 n. Chr.), die auch heute noch aus mehreren Gründen interessant ist und häufig zitiert wird. Al-Ġazālī geht dabei eher beiläufig, aber dezidiert auf die Möglichkeit und gelegentlicher Notwendigkeit metaphorischer Textauslegung im Kontext von Koran und Hadith ein (taʾwīl) und verbleibt dabei weitgehend im Rahmen der rationalen sunnitischen Theologie (Kalām), die seit jeher in unterschiedlichem Ausmaß offen gegenüber metaphorischer Auslegung war. Als Faustregel kann man festhalten: Je ernster islamische Gelehrte Naturwissenschaft (bzw. rationale Erkenntnisse generell) nahmen, umso eher waren sie zu metaphorischen Textauslegungen bereit.

Der folgende Text stammt aus dem Vorwort von al-Ġazālīs berühmter Philosophiekritik aus dem Jahr 1095. Al-Ġazālī hat sich auch in zahlreichen späteren Werken dem Thema und seinen Voraussetzungen gewidmet, sodass dieser Text bei weitem nicht alles ist, was er hierzu zu sagen hat. Aber dieser Text nimmt vieles davon auf komprimierte und eloquente Weise vorweg. Fragen wie die, ab wann rationales Wissen als soweit gesichert gelten darf, sodass im Konfliktfall ein Abweichen vom Wortlaut in Koran und Hadith zugunsten einer freieren Interpretation möglich ist, haben ihn bis an sein Lebensende beschäftigt und vielfältige sowie teils gegensätzliche Spuren in seinen Werken hinterlassen. Viele seiner Darstellungen hierzu vermögen in jedem Fall auch heute noch zu inspirieren. Ich habe diese überblicksartig dargestellt in meinem Buchbeitrag Al-Ġazālī und die naturwissenschaftliche Erklärung der Welt, erschienen im von Muhammad Sameer Murtaza herausgegebenen Sammelband „Islamische Philosophie (Bd. 4) – Kritik an der Falsafa“ (Hamburg 2020, S. 149-208). Der Blick auf das Gesamtwerk al-Ġazālīs verdeutlicht, dass er die metaphorische Auslegung, entgegen dem möglichen Eindruck aus dem folgenden Text, nicht nur im Falle von rationalem Wissen billigte, dessen Sicherheit dem von arithmetischen und geometrischen Beweisen entsprach, sondern auch schon bei einfacheren empirisch erschlossenen Gesetzmäßigkeiten der Natur. Dies werde ich in einem anderen Text darstellen.

Es folgt nun meine Übersetzung der relevanten Passage aus dem zweiten Vorwort von Abū Ḥāmid al-Ġazālīs „Tahāfut al-Falāsifa“ (Die Inkohärenz der Philosophen). Die fett gedruckten Überschriften und eckigen Klammern stellen meine Erläuterungen dar.

„1. Die geometrische Erklärung von Mond- und Sonnenfinsternis durch die Philosophen

 … Der zweite Teil [der Uneinigkeiten zwischen den islamischen Philosophen und den anderen islamischen Gruppen] beinhaltet Angelegenheiten, die nicht den Grundlagen der Religion widersprechen. Ihre Annahme oder Zurückweisung berührt nicht die Frage der Bestätigung der Propheten und Gesandten, der Segen Allahs sei mit ihnen.

So sagen sie beispielsweise bei der Erklärung der Mondfinsternis, dass das Licht des Mondes erlischt, sobald sich die Erde zwischen Sonne und Mond befindet. Denn die Erde erhält ihr Licht von der Sonne. Sie ist kugelförmig und der Himmel umgibt sie von allen Seiten. Wenn der Mond sich im Schatten der Erde befindet, dann erreicht sie das Licht der Sonne nicht mehr.

Bei der Erklärung der Sonnenfinsternis sagen sie, dass diese eintritt, wenn der Mond sich zwischen die Sonne und dem, der die Sonne anschaut, schiebt. Dies passiert, wenn sich Sonne und Mond [vom Beobachter aus] in der gleichen Position [am Himmel] befinden.

 2. Es ist töricht wissenschaftlichen Beweisen im Namen der Religion zu widersprechen

Wir werden auch hier nicht versuchen eine solche Auffassung zu widerlegen. Wir sind nicht der Meinung, dass dies nützlich ist. Wer glaubt, dass die Zurückweisung einer solchen [naturwissenschaftlichen] Ansicht [zu den Finsternissen] in religiöser Hinsicht eine Verpflichtung ist, verschuldigt sich an der Religion (fa-qad ǧanā ʿalā-d-dīn) und schwächt ihre Sache. Zum Beweis solcher Angelegenheiten gibt es geometrische und arithmetische Beweise, die keinen Zweifel lassen.

Wenn man zu jemandem, der diese Wissenschaft kennt und infolge eines Studiums ihrer Beweise die Zeiten, die Stärke und die Dauer beider Finsternisse vorhersagt, sagt: „Das widerspricht der Religion!“, dann zweifelt er nicht an der Sache, sondern an der Religion.

Der Schaden, den die Religion von demjenigen erfährt, der der Religion auf einem Weg außerhalb der Religion [scheinbar] hilft, ist größer als der Schaden durch den, der die Religion auf einem Weg innerhalb ihrer angreift. Er ist wie der, von dem es heißt: „Ein vernünftiger Feind ist besser als ein unwissender Freund.

3. Islamische Quellen, die Themen der Naturwissenschaft berühren

Und wenn gesagt wird: „Der Gesandte Gottes, Allah segne ihn und schenke im Frieden, sagt: ‚Die Sonne und der Mond sind zwei Zeichen unter den Zeichen Allahs. Sie verfinstern sich nicht durch den Tod oder das Leben von jemandem. Wenn ihr solches [eine Finsternis] seht, dann nehmt Zuflucht zum Gedenken Gottes und zum Gebet.‘ Wie passt das zu dem, was sie [die Philosophen] gesagt haben?“

Dann sagen wir: Hierin gibt es nichts, was dem widerspricht, was sie gesagt haben. Darin [im Hadith] wird nur ausgesagt, dass es zur Finsternis nicht durch den Tod oder das Leben von jemandem kommt.

Und dazu, dass darin zum Gebet [bei einer Finsternis] aufgerufen wird: Es ist die Religion, die zum Gebet am Mittag, bei Sonnenuntergang und zu Sonnenaufgang aufruft. Warum sollte es da fernliegen, dass sie es gebietet bei der Finsternis mit dem Gebet Folge zu leisten?

4. Was tun, wenn der Wortlaut von Quellen wissenschaftlichen Beweisen widerspricht?

Und wenn gesagt wird: „Es wurde überliefert, dass er [der Prophet] am Ende des Hadith gesagt hat: ‚Wenn Gott in einem Ding erscheint, dann unterwirft es sich ihm‘. Das zeigt, dass die Finsternis ihre Ursache in der Unterwerfung hat.“,

dann sagen wir: Dies ist eine Hinzufügung. Es ist nicht richtig dies zu überliefern. Man muss den Überlieferer der Lüge bezichtigen. Das, was [wirklich] überliefert ist, ist das, was wir genannt haben.

Doch was wäre, wenn sie [d. h. die Hinzufügung] authentisch wäre? Dann wäre ihre [metaphorische] Interpretation (taʾwīl) leichter als die Überheblichkeit gegen gesicherte Angelegenheiten (ʾumūr qaṭʿīya). Und es gibt viele Wortlaute (ẓawāhir) [in anderen Quellen], die mit rationalen Beweisen (ebenfalls) interpretiert wurden, die aber hinsichtlich ihrer Deutlichkeit nicht an diese Grenze [wie bei der geometrischen Erklärung der Finsternisse] heranreichen.

Und am meisten profitieren die Religionsgegner (malāḥida) davon, wenn der Helfer der Religion erklärt, dass dies und ähnliches [an wissenschaftlich Gesichertem] der Religion widerspricht. Und er erleichtert ihm [dem Religionsgegner] den Weg zur Widerlegung der Religion (ibṭāl aš-šarʿ), wenn sie [d. h. ihre Wahrheit] von Bedingungen wie dieser abhängig gemacht wird.

5. Worauf es bei der theologischen Untersuchung ankommt

Dies[e Argumentation gilt], weil es in der Untersuchung [der Theologen und der Philosophen] über die [physikalische] Welt darum geht, ob ihr Sein [im Sinne einer creatio ex nihilo] geschaffen oder seit Ewigkeiten gegeben ist.

Nachdem ihre Erschaffenheit [d. h. die der Welt] bewiesen ist, ist es gleichgültig, ob sie eine Kugel oder flach ist, oder ob sie sechseckig oder achteckig ist. Und es ist gleichgültig, ob die Himmel – und das unter ihnen – dreizehn Schichten sind, wie sie gesagt haben, oder weniger oder mehr. Das Verhältnis des Nachdenkens darüber zur theologischen Untersuchung (al-bahṯ al-ilāhī) ist wie das Verhältnis des Nachdenkens über die Schichten der Zwiebel und ihre Anzahl, und über die Anzahl der Kerne des Granatapfels.

Der Zweck ist [zu zeigen], dass seine Existenz [d. h. die der Welt] zum Tun Allahs allein gehört, wie immer es auch [im Einzelnen] existieren mag (fa-l-maqṣūd kawnuhū min fiʿl-Allāh faqaṭ kayfa mā kān).“

[Übersetzt aus: Abū Ḫāmid al-Ġazālī / Abū Sulaymān Dunyā (Hg.), Tahāfut al-Falāsifa, Kairo 1980, S. 80–81. Die Überschriften und Klammereinfügungen stammen von mir.]