Probleme einer naturwissenschaftlichen Koranexegese und Wege zu einer islamischen Kosmologie

1. Doch keine Koranwunder? Wege zu einer islamischen Kosmologie

Die in „Koranwunder in meiner Jugend“ erzählte Geschichte war nicht zu schön um wahr zu sein. Ich bin Allah und allen freiwillig oder unfreiwillig Beteiligten sehr dankbar dafür, dass ich das erleben durfte. Diese Geschichte ist ein Teil vieler ähnlicher Erfahrungen, die ich als Jugendlicher und junger Erwachsener bei meiner Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen islamischem Glauben und Vernunft gemacht habe. Ich kann das nicht mehr aus meiner Biografie herausrechnen. Es hat sich auf meinem Weg bis heute im Vergleich zu meinem Startpunkt bei Haluk Nurbakis „Koranwunder“ in den 90ern jedoch auch vieles verändert. Ich habe unterwegs viel über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion gelernt. Dabei habe ich viel analysiert, gebetet, gejubelt und geflucht, über den Haufen geworfen und neu kreiert. Was geblieben ist, ist die tiefe Faszination für die Naturwissenschaft, mein Glaube an Allah und den Koran und das Bestreben das Weltganze als harmonische Einheit zu deuten – genauer: als eine vielschichtige Erscheinung der Einheit des Schöpfers.

Mir scheint das maximalistische Versprechen von Koranwundern nicht der richtige Schlüssel dazu zu sein – zumindest nicht in ihrer verbreiteten und auf absolute Gewissheit und Unmittelbarkeit abzielende Form wie beim seligen Haluk Nurbaki. Dasselbe gilt aus meiner Sicht mit wenigen Abstrichen auch für die nüchterner auftretende (natur-)wissenschaftliche Koranexegese (tafsīr ʿilmī). Überhaupt ist die Idee der naturwissenschaftlichen Koranwunder aus meiner Sicht meistens weniger der Versuch den Koran analytisch zu verstehen, sondern eher eine auf daʿwa-Zwecke ausgerichtete Anwendung der naturwissenschaftlichen Koranexegese, die im Wesentlichen ein ähnliches Ziel verfolgt: Beide Ansätze vertreten die These, dass der Koran direkt und formgenau etliche Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft beinhaltet, die zu Zeiten der koranischen Offenbarung den Menschen nicht bekannt waren. Der Kontrast der koranischen Aussagen zum damaligen vorwissenschaftlichen Kenntnisstand wird dabei als ebenso frappierend ausgewiesen wie die beiläufige Vorwegnahme von heutigem naturwissenschaftlichen Wissen durch den Koran, das vor allem die westliche Welt nur mit großen Anstrengungen erlangen konnte, aber dabei letztlich nicht über die seit Jahrhunderten bestehenden Aussagen des Korans hinausgekommen ist. Diese Besonderheit des Korans wird im zweiten Schritt dann als unzweifelhafter Beweis des göttlichen Ursprungs des Korans und somit des Islams verstanden, also als unmittelbares zeitgenössisches Wunder. Beide Schritte vollziehen sich dabei in einer Leichtigkeit, bei der man sich fragen muss, was Theologen eigentlich seit Jahrhunderten getrieben haben, wenn die Grundthesen des islamischen Glaubens doch mit wenigen Handgriffen beweisbar waren.

Ich gebe jedoch gerne zu, das mein eigener Bericht zu meinen Erfahrungen mit den Versen zur 6-Tage-Schöpfung auf den ersten Blick dieselben Botschaften zu transportieren scheint. Aber ich setze den Fokus trotz allen scheinbaren Ähnlichkeiten anders, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Im weiteren Verlauf werde ich der Leserlichkeit halber die Bezeichnungen „Koranwunder“ und „naturwissenschaftliche Exegese“ synonym verwenden, da ich mich primär mit deren Gemeinsamkeiten befassen werden. 

Also: Die Idee von naturwissenschaftlichen Koranwundern war nach meinem Eindruck ein großes Einheitsversprechen vieler muslimischer Denker und Gelehrter, das in der Moderne aufgetreten war und das ohne eine offene Frage zu lassen die Wahrheit des Islams und den göttlichen Ursprungs des Korans beweisen sollte – sowohl westlichen Kritikern des Islams, als auch der muslimischen Jugend, die sich in jedem Bildungsschritt auf die westliche Zivilisation hin und von der islamischen Identität weg zu bewegen schien. Damit zusammenhängend diente die Denkfigur der Koranwunder unter psychologischem Gesichtspunkt auch dazu den über Jahrhunderte entstandenen immensen Entwicklungsrückstand der islamischen gegenüber der westlichen Welt in einem sprichwörtlichen Wunderakt gefühlt aufzuholen. Die Idee der Koranwunder war motiviert durch naheliegende theologische Intuitionen bei gleichzeitigem Fehlen von Methodenbewusstsein in jedwede Richtung. In ihrer heute weiterhin verbreiteten Form war diese Idee letztlich kein gut überlegtes Versprechen. Denn sobald man diese Idee konsequent weiterdenken möchte, stößt man schnell an Grenzen, die die Konstrukteure der Idee in ihrer apologetischen Absicht leichtfertig unterschätzt oder übersehen haben. Meine eigene Geschichte belegt eben auch dies.

Es fehlen dabei insbesondere vermittelnde Schritte zwischen Koran und Naturwissenschaft, da dies doch zwei sehr verschieden strukturierte und zudem höchst komplexe Dinge sind. Genauer: Zwischen diesen vollzieht die naturwissenschaftliche Koranexegese viele versteckte Zwischenschritte, deren Nichtthematisierung einerseits den Anschein von Gewissheit des Ergebnisses weckt, aber andererseits auch ein falsches und übermäßig vereinfachtes Bild von Koran und von Naturwissenschaft erzeugt. Diese Bilder können nur aufrechterhalten werden kann, wenn man sich weder mit dem Koran und seiner Auslegungsgeschichte, noch mit der Naturwissenschaft und ihren Forschungs- und Begründungspraktiken intensiver befasst. Diese übersprungenen Schritte sind es jedoch, die es verhindern das Versprechen der großen Einheit auf so direkte und kostengünstige Weise einzulösen.

Ich werde unten einige Gedanken formulieren, wie man nach Verzicht auf den Anspruch auf absolute Gewissheit naturwissenschaftlicher Beweise für den göttlichen Ursprung des Korans dennoch einen würdigen Nachfolger für das Konzept der rationalen Koranwunder oder der naturwissenschaftlichen Koranexegese finden kann, nämlich in Form koranischer bzw. allgemeiner: islamischer Kosmologie, gegründet auf der Basis analytischer islamischer Theologie. All dies ist nichts Neues im Islam, aber aktualisierungsbedürftig. Mein Kosmologie-Blog ist genau diesem Thema gewidmet.

Islamische Kosmologie weist ein deutlich entspannteres Verhältnis zur Naturwissenschaft auf als die Idee der Koranwunder, da sie die Naturwissenschaft als eine von vielen Komponenten in ein metaphysisches und religiöses Modell von Welt integriert, sie dabei weitgehend autonom lässt und dabei zugleich weder die religiöse Tradition, noch Spiritualität abwertet. Sie will nicht primär den göttlichen Ursprung von Koran und Kosmos rational beweisen, sondern zeigen wie man Koran und Kosmos in sich schlüssig als Werke Gottes lesen und deuten und dabei neben anderen Dingen auch die Naturwissenschaft angemessen integrieren kann. Sie ist bleibt weiterhin offen für Hinweise und Zusammenhänge, die das rationale Vertrauen in den Koran und in die Geschöpflichkeit der Welt verstärken können – also auch für jene Zusammenhänge, mit denen sich das Konzept der Koranwunder bzw. der naturwissenschaftlichen Koranexegese, aber auch die rationalen Gottesbeweise befassen. Gleichzeitig interessiert sie sich aber auch für potenzielle Konfliktfälle zwischen diesen und befasst sich analytisch und entspannt mit diesen. Sie setzt ihren Fokus nicht auf das Zusammensuchen vermeintlich unwiderlegbarer Beweise für die Wahrheit des Korans, sondern auf das gesamtheitliche Erleben und Verstehen von Welt und (hier: islamischer) Religion, das den Gläubigen als Gläubigen adressiert und dabei vom gegenwärtigen Zivilisationsstand der Welt mit all seinen Stärken und Schwächen ausgeht. Es geht ihr also mehr um innere Schlüssigkeit als um absolute Beweise, mehr um Fruchtbarkeit als um Ausschließlichkeit.

Bevor ich darstelle, welche Themen aus meiner Sicht für islamische Kosmologie im hier verstandenen Sinne interessant sein können, möchte ich am Beispiel meiner obigen Geschichte verdeutlichen, welche Schritten ich gemeint habe, die im Konzept der Koranwunder und der naturwissenschaftlichen Exegese fehlen würden.

2. Vier Probleme der naturwissenschaftlichen Koranexegese

Problem 1: Die Ergebnisse der Naturwissenschaft sind Zwischenergebnisse eines sehr komplexen und von außen kaum durchschaubaren Diskurses.

So hängt das Alter des Universums – auch „Weltalter“ genannt – von gewissen Modellannahmen ab, die sich ändern können, wenn neue Entdeckungen, Zweifel oder unvorhergesehene starke Trends auftreten. So hat sich seit 1998 in der physikalischen Kosmologie das Einstein-Friedmann-Lambda-Cold-Dark-Matter-Modell durchgesetzt. Dieses Bündel von sehr erfolgreichen (und dabei erstaunlich einfachen) Modellannahmen fließt auch entscheidend in die Berechnung des Weltalters mit ein. Man beachte: Trotz eines fast Vierteljahrhunderts, über die das kosmologische Standardmodell „stabil“ war, und dem ich den Erfolg meiner Schätzung des Alters des Universums schulde, werden aktuell in der kosmologischen Forschung von immer mehr Stimmen Probleme des besagten Modells aufgeworfen und diskutiert (z. B. hier und hier): Es ist denkbar, dass einige schon länger bekannte Unstimmigkeiten innerhalb der Daten des Planck-Projekts auf einen Fehler im kosmologischen Modell hindeuten, der auch – kleine oder größere – Auswirkungen auf die Berechnung des Weltalters haben kann. Es ist aber auch denkbar, dass die Unstimmigkeiten aus statistischen Fluktuationen resultieren, die keine dramatischen Folgen haben, oder dass nur kleinere Verfeinerungen des Standardmodelles nötig sind. Man weiß das, was man zu wissen meint, schlichtweg nicht mit absoluter Gewissheit (schon gar nicht in der Kosmologie), sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (die man aber auch nicht exakt angeben kann). 

Man wird, wenn man es ernst meint mit der Naturwissenschaft, die Ohren spitzen, sobald die Argumente zwingender werden. Das bedeutet nicht, dass bis dahin naturwissenschaftliche Ergebnisse beliebig sind, sondern nur, dass sie von Annahmen abhängen, die man explizieren muss, und für die es immer nicht nur Pro- sondern auch Contra-Argumente gibt, die sich wiederum im Laufe der Zeit ändern können. Konkret werden naturwissenschaftliche Thesen im Laufe der Zeit durch kritische Prüfung oft verbessert. Manchmal kann dies aber auch einen radikalen Paradigmenwechsel in der Theorie nach sich ziehen. Vorhersagbar ist so ein Umsturz jedenfalls nicht. Darum sollte man Religion lieber nicht auf Einzelthesen und Ergebnissen von Naturwissenschaft aufbauen, wenn sie zeitlos sein soll. 

Fazit: Naturwissenschaften liefern Messresultate und Erklärungen zu Phänomenen in der Natur stets nur im Lichte komplexer theoretischer Annahmen und Modelle, die kritisierbar, verbesserbar und oft auch nicht einheitlich sind. Es ist zu hoffen, dass ihre stetige Prüfung, Bewährung und Korrektur uns näher an Wahrheit über die Natur führt. Im Einzelfall garantiert ist dies jedoch nicht. Darum müssen diese theoretischen Annahmen und Modelle stets mit bedacht werden, wenn über Naturwissenschaft gesprochen wird.

Problem 2: Koranauslegung ist ein Unterfangen, das mindestens so voraussetzungsreich ist wie das Betreiben von Naturwissenschaft.

Das gilt insbesondere, wenn es um den Umgang mit vieldeutigen Versen geht, zu denen die Schöpfungsverse klassischerweise gezählt werden. Problematisch sind beispielsweise fehlende Kenntnisse auf Seiten des Auslegers (bzw. eines „Koranwunder“-Autors)

  • in der arabischen Sprache, 
  • im Korantext sowie in seiner Struktur und Entstehungsgeschichte,
  • in den intellektuellen, kulturellen und sprachlichen Voraussetzungen seines ersten Adressatenkreises, 
  • in der Auslegungsgeschichte konkreter Verse,
  • im Selbstverständnis des Korans.

So ist es abwegig Koranverse auslegen zu wollen ohne gleichzeitig die Gesamtheit aller anderen thematisch verwandten Koranverse zu berücksichtigen, wie wir am Beispiel der Spannung zwischen den Schöpfungsschilderungen in Sure 41 und 79 sahen. Zwischen diesen beiden mekkanischen Suren liegen nur wenige Jahre Offenbarungszeit, sodass es auch nicht aussichtsreich ist den scheinbaren Widerspruch durch eine historisch-kritische Herangehensweise zu erklären, wie es jedoch bei den beiden Schöpfungsberichten im 1. Buch Mose gut zu funktionieren scheint, zwischen denen wahrscheinlich viele Jahrhunderte liegen. 

Bei unserem Ansatz zu 41:9-12 haben wir jedoch implizit vorausgesetzt, dass die Passagen in Sure 41 und 79 sehr wohl miteinander harmonieren, wenn man sie jeweils als epistemisch unvollständige Teilberichte liest, die je durch den anderen Bericht ergänzt werden. Dafür mussten wir jedoch einige Begriffe auf eine bestimmte Weise deuten („Kommt ihr beiden!“). Solche Entscheidungen sind jedoch selten zwingend . 

Man bedenke dazu, dass sich die selbigen Verse prinzipiell auch auf andere Weise harmonisch miteinander auslegen lassen, wobei dann zu untersuchen wäre, für welche Auslegung die besseren Argumente sprechen. Auch bedenke man, dass wir das Wort „Tag“  als Platzhalter für einen feste, aber vom Koran nicht spezifizierte Zeitdauer gelesen haben, die auch Milliarden Jahre betragen kann, aber nicht muss. Denn dies ist eine starke Voraussetzung, die in der Geschichte der Koranexegese erst in der Moderne Verbreitung gefunden hat. In der islamischen Tradition gibt es hingegen die Tendenz die sechs Tage als echte Wochentage zu deuten, was nicht zuletzt an zahlreichen außerkoranischen Überlieferungen liegt, in deren Licht die Exegeten den Koran deuteten – aber auch am Wortlaut der biblischen Fassung, an die das Narrativ auch der koranischen 6-Tage-Schöpfung offensichtlich anknüpft.

Ich hingegen habe mich eher an den Naturwissenschaften orientiert, als ich das Wort „Tag“ als Metapher für eine längere Zeitspanne ausgewiesen haben. Dabei habe ich vorausgesetzt, dass man auch so der Intention des Koranurhebers gerecht wird. Aber dies ist eine sehr starke Annahme, die man erst mal teilen muss. Teilen kann dies aber nur der, dem die Vereinbarkeit mit dem aktuellen naturwissenschaftlichen Kenntnisstand wichtiger ist als die Vereinbarkeit mit einzelnen über Jahrhunderten tradierten Auslegungsweisen der Islamgelehrten. 

Hier kommt ein weiterer schwieriger Faktor ins Spiel: In der Offenbarungszeit gab es bei den Erstadressaten des Korans etablierte Weltbilder, die in irgendeiner Form ihren direkten oder indirekten Niederschlag im Koran gelassen haben müssen, da der Koran ja diese Menschen vor dem Hintergrund ihres Vorwissens bzw. ihres damaligen Weltbildes adressiert. Andererseits sind diese Weltbilder naturwissenschaftlich überholt. Insofern bleibt die Frage: Wie ist es überhaupt möglich koranische Aussagen mit heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu vergleichen, wenn allein schon aus sprachwissenschaftlichen Gründen zu erwarten ist, dass der Koran primär das eher „falsche“ naturwissenschaftliche Vorwissen mancher seiner Erstadressaten voraussetzen oder berücksichtigen muss (z. B. geozentrisches Weltbild, scheibenförmige Erde), wenn er sie zum Nachdenken über die metaphysische Welt dahinter bringen und zu moralischer Umkehr aufrufen möchte, ohne erst eine naturwissenschaftliche Revolution anzuzetteln? Jede Antwort auf diese Frage sollte ferner auf irgendeine Weise berücksichtigen, dass ein Großteil der Islamgelehrten die meiste Zeit der islamischen Geschichte über Weltbilder mit dem Koran begründet hat, die wir heute als „wissenschaftlich widerlegt“ bezeichnen würden.

Um dergleichen zu berücksichtigen, versuche ich Formulierungen zu vermeiden wie die, dass der Koran unmittelbar lehre, dass die Erde im letzten Drittel des Weltalters entstanden ist. Vielmehr sage ich: Wenn man den Befehl „Kommt ihr beiden!“ aus 41:11 als Aufforderung versteht physikalisch erstmals in Erscheinung zu treten, und wenn man die gesamte Passage als zeitgeordneten Bericht und nicht nur als Aufzählung liest, dann folgt daraus, dass auch die Erde erst im letzten Drittel der 6-Tage-Schöpfung erschienen ist. Ebenso könnte ein Gegner meiner Auslegung sagen: „Ich verstehe 41:11 vor dem Hintergrund der Erläuterung namhafter Gelehrter aus der Tradition dahingehend, dass der Befehl „Kommt ihre beiden!“ bedeutet, dass Himmel und Erde ihre Früchte sichtbar werden lassen sollen.“ Das bedeutet nicht, dass beide Deutungen deswegen gleichermaßen gut oder richtig sind, sondern lediglich, dass Aussagen über die Bedeutung bzw. den gemeinten Sinn eines Verses von Voraussetzungen abhängen, für die man sich erst begründet entscheiden muss, und die man explizieren muss.

Fazit: Wenn wir über den Koran oder bestimmte Koranverse sprechen, dann sprechen wir fast immer von höchst voraussetzungsreicher Koranauslegung. Diese hat grob die Form: „Ich verstehe den Vers x in der Bedeutung y vor dem Hintergrund meiner Annahme z“. Diese Struktur gilt es bei allen Fragen der Auslegung stets transparent zu machen.

Problem 3: Ein Vergleich von Naturwissenschaft und Koran bzw. von Natur und Koran ist ein höchst komplexes und voraussetzungsreiches Unterfangen.

Man kann keine ganzen naturwissenschaftlichen Theorien mit dem Koran vergleichen, da es keinen Beweis dafür gibt, dass der Koran an irgendeiner Stelle ganze naturwissenschaftliche Theorien und Modellsysteme adressiert oder voraussetzt, schon gar nicht die zeitgenössischen. Was man jedoch vergleichen kann – und selbst das ist umstritten – sind einzelne Ergebnisse oder Aussagen über die Erfahrungswelt, die zwar mit naturwissenschaftlichen Methoden gewonnen wurden, die aber auch ohne vertiefte naturwissenschaftliche Vorbildung verständlich sind, und einzelne Auslegungen von Koranpassagen, deren Aussagen sich ebenfalls auf die Erfahrungswelt beziehen. So habe ich versucht zu zeigen, dass sowohl im heutigen Standardmodell der Kosmologie, als auch in meiner Lesart von Sure 41:9-12 die Erde zu Beginn des letzten Drittels des Weltalters entsteht. Dabei habe ich eine sehr gute Übereinstimmung festgestellt. Ich habe aber nie behauptet, dass der Koran deswegen schon die moderne Kosmologie beinhaltet. Zugleich glaube ich – und dies ist ein subjektiver, aber starker Glaube -, dass eine „endgültige“ Koranauslegung der modernen Kosmologie, aber auch anderen Bereichen der Naturwissenschaft zumindest nicht widersprechen wird. Beinhalten ist weit mehr als Vereinbarkeit. Und echte Übereinstimmungen sind nur eine kleine Teilmenge von Vereinbarkeiten. 

Und ich glaube, dass es dabei in Einzelfragen – also nicht auf der Ebene ganzer Theoriesysteme, sondern einzelner empirischer Aspekte –  überraschend gute Übereinstimmungen gibt bzw. geben kann. Diese halte ich, wie man meiner Erfahrungsbericht zur 6-Tage-Schöpfung ansehen kann, für mich persönlich für bedeutungsvoll und sie können viel zum Einheitsgefühl zwischen Glaube und Vernunft beitragen. Ich würde diese aber nicht (mehr), oder zumindest nur widerwillig als Koranwunder bezeichnen. Denn für ein „hartes“ Wunder sind mir letztlich auch die beeindruckendsten „Koranwunder“ zu vieldeutig.  

Ein „hartes“ Wunder sollte eindeutig und unmittelbar sein. Daraus folgt umgekehrt aber auch: Im Falle eines Konflikts zwischen der Auslegung eines Verses und einem allgemein anerkannten naturwissenschaftlichen Satz ist nicht der Koran als solcher widerlegt, sondern, wenn überhaupt, die spezifische Auslegung.

Es ist aus meiner Sicht aber auch klar, dass eine auffällig große Häufung von Übereinstimmungen ebenso erklärungsbedürftig sind wie eine Häufung von Konfliktfällen. So habe ich beispielsweise den Eindruck, dass eine auf außerkoranischen Überlieferungen basierende Koranauslegung zu wesentlich mehr Konfliktpotenzial mit der Naturwissenschaft führt als ein den Koran und die Vernunft priorisierendes Verfahren. Dies bedarf einer Erklärung. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass der Koran mit bereits wenigen exegetischen Entscheidungen eine gute Vereinbarkeit mit der Naturwissenschaft ermöglicht, für die meine Auslegung von 41:9-12 ein Beispiel ist. Auch dies bedarf einer Erklärung. Es ist aber auch auffällig, dass der Koran sich sprachlich nicht im Rahmen der modernen Theorien und Modelle ausdrückt, sondern im Rahmen von Voraussetzungen, die zu einem geozentrischen Weltbild passen. Auch dies bedarf einer Erklärung. 

Diese Erklärungen können, müssen jedoch nicht von dramatischen theologischen Ausmaßen sein. So verwenden wir selbst im Alltag eine geozentrische Sprechweise („Die Sonne ist eben aufgegangen“), und jeder versteht, was wir damit meinen. Mit diesem Satz könnte prinzipiell aber auch eine implizite Bestätigung des (wissenschaftlich überholten) geozentrischen Weltbildes verbunden sein, da der Wortlaut des Satzes der Sonne ein aktives „Aufgehen“ und somit der Erde offensichtlich ein Ruhen unterstellt. Es kann sich dabei aber auch um eine rein instrumentelle Verwendung von im Sprecherkontext verständlichen Sprechkonventionen handeln, die nur ausdrücken will, dass wir seit eben die Sonne über dem Horizont sehen können – auch wenn sie entgegen dem Wortlaut unseres Satzes gar nicht aktiv aufgeht, sondern es unsere Position auf der Erde ist, die sich im Zuge der Erdrotation der Sonne zugewandt hat. Steht der Satz „Die Sonne ist eben aufgegangen“ nun im Einklang, oder im Widerspruch zur Naturwissenschaft? Diese Frage lässt sich kaum mehr aus dem Wortlaut des Satzes alleine beantworten, sondern aus dem im Text unsichtbar bleibenden sozialen und historischen Kontext des Kommunikationsereignisses. Für diese Art der Untersuchungen hat beispielsweise die moderne Linguistik als eigene Teildisziplin die Sprachpragmatik hervorgebracht.

Für unsere konkrete Fragestellung ist interessant, wann Sprache eine literal-deskriptive Funktion erfüllt (und somit wörtlich gemeint ist), und wann sie eine pragmatisch-instrumentelle Funktion erfüllt (also nicht wörtlich gemeint ist, sondern der praxisbezogenen Verständigung in einem besonderen Situationskontext dient). Diese Frage zu stellen ist noch keine Theologie. Aber sie im Kontext der Koranexegese zu stellen und zu beantworten kann theologische Folgen haben – etwa, wenn die gesamte Sprache des Korans pauschal und ohne jede Differenzierung literal-deskriptiv oder pragmatisch-instrumentell verstanden wird. Ersteres führt auf eine kontraintuitive Überhöhung des Wortlautes auf Kosten von tieferem Sinnbezug und Sprachgefühl. Und letzteres führt zu einer radikalen Relativierung des Aussagengehaltes des Korans, auf ein Einsperren in einen engen historischen Kontext, vorbei an jedem intuitiven Texterleben. Beides scheint mir nicht plausibel.  

Problem 4: Die genaue Platzierung von Koranauslegung in einen größeren theologischen Zusammenhang ist eine voraussetzungsreiche Sache.

Ohne Einbettung spezieller Themengebiete der Koranauslegung in einen solchen größeren theologischen und weltanschaulichen Kontext führt auch eine Summe vieler engagierter Einzelbestrebungen noch zu keinen neuen gesamtheitlichen Bildern von der Welt. Der Koran hat nicht nur zahlreiche Passagen zur Schöpfung mit potenziell empirischem Gehalt. Er weist – selbst in seinen Schöpfungspassagen – insbesondere auch anthropologische, theologische, ethische, juristische, prophetologische, eschatologische sowie zahlreiche weitere thematische Ebenen auf. Erst die Gesamtheit all dessen bildet den Koran. Denn all diese Ebenen hängen vielfältig miteinander zusammen.

Neben dieser Frage der inneren Gesamtheitlichkeit des Korans ist auch die konkrete Einbettung des Korans in seinen historischen Offenbarungskontext – vom Wirken und der Praxis des Propheten Muhammad über die politischen Strukturen auf der arabischen Halbinsel bis hin zur Welt der Spätantike – ein Kontextfaktor, der nicht ignoriert werden kann, wenn man verstehen möchte, wovon der Koran jenseits des bloßen Wortlautes „wirklich“ handelt und mit welchen konkreten historischen Problemstellungen der Prophet des Islams konfrontiert war, zu denen der Koran Stellung bezieht.

Diese Einbettungsproblematik setzt sich auf systematischer Ebene fort: Eine Vereinbarung von Religion und Naturwissenschaft ist durch bloße Klärung des intendierten Sinnes einzelner Koranpassagen alleine nicht zu beantworten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine nicht nur punktuelle (Beispiel: Weltalter) systematische Integration von Schöpfungsaussagen nur im Rahmen umfassenderer theologischer Modelle möglich sind. Erst auf dieser Ebene kommt das umfassendere Sinnangebot des Korans und des Islams zur Geltung, weil wir hier erstmals von echten Systemen und Weltbildern sprechen können, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. 

3. Zur Verteidigung des Guten an naturwissenschaftlicher Koranexegese

Nachdem ich mich kritisch zu den von mir festgestellten Defiziten der Idee von Koranwundern und naturwissenschaftlicher Koranexegese geäußert habe, möchte ich mich auf der Basis meiner eigenen Erfahrungen jedoch auch zu einigen typischen Kritiken und Einwänden gegen diese Konzepte bzw. gegen Syntheseversuche von Koran und Naturwissenschaft im allgemeinen äußern, die ich nicht teilen kann. Es folgen nun einige typische solcher Einwände und meine Antworten dazu.

Einwand 1: Wenn man beginnt den Koran frei auszulegen, dann kann jeder den Koran beliebig auslegen und hineininterpretieren, was immer er möchte. Ein Text, in den man alles hineinlesen kann, sagt letztlich gar nichts aus.

Antwort 1: Dem zweiten Satz stimme ich zu. Den ersten kann das nicht bestätigen, zumindest nicht für ernsthafte Auslegungsversuche. Sobald man ernsthaft nach Argumenten für oder gegen eine Interpretation sucht, merkt man sehr schnell, was beliebig ist, und was zum Text passen könnte. Ich habe in meinen eigenen Studien zu 41:9-12 gesehen, dass es – zumindest für mich – fast unmöglich ist mehr als zwei oder drei Auslegungsmöglichkeiten einer Passage als naheliegend oder plausibel aufzufassen (auch unabhängig davon, ob sie mit Naturwissenschaft harmonieren). Denn ich finde: Je umständlicher und zahlreicher die Zusatzannahmen eines Auslegungsvorschlages werden, umso unplausibler werden die jeweiligen Auslegungen. Und im Übrigen: Ich habe viele Jahre nach meinem Auslegungsvorschlag entdeckt, dass der Koranexeget Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209) meine wichtigsten Thesen zur Auslegung von 41:11 in seinem monumentalen Exegese-Werk schon lange vor mir vertreten und auch begründet hat. Von wegen beliebige Willkür!

Einwand 2: Den Koran naturwissenschaftlich auslegen zu wollen ist eine hermeneutische Unmöglichkeit, da er in einem Umfeld gesprochen hat, das nicht naturwissenschaftlich vorgebildet war, bzw. das weder in hellenischen, noch in modern-rationalistischen Kategorien dachte und fühlte. Darum ist es sinnlos im Koran nach Informationen zu suchen, die man naturwissenschaftlich auswerten oder gar prüfen könnte.

Antwort 2: Ich selbst habe mithilfe des Korans eine Schätzung zum Alter des Universums gemacht und im Wesentlichen wohl Recht behalten. Selbst, wenn das Zufall gewesen sein sollte: Es gab keine hermeneutischen Brüche bei meinem Vorgehen, da auch die traditionellen Islamgelehrten sich auf der Basis von Koran und vor allem von Hadith bemüht haben Zeitangaben zu kosmologischen Ereignissen zu machen. Der Grund, warum dies geht, ist ganz einfach: Zeitangaben sind keine naturwissenschaftlichen Sätze, sondern einfache empirisch relevante Sätze. Wenn ich sage: „Es ist 13.56 Uhr“, oder „Unser Urgroßvater ist 97 Jahre alt geworden“, dann sind das zunächst einmal nur einfache Sätze mit empirisch relevantem, d. h. durch Nachfragen, Hinschauen, anschaulichem Fortsetzen in Gedanken oder durch indirekte Hinweise für jeden prinzipiell sinnlich vorstellbare und prüfbare Sachverhalte. Diese beiden Sätze mit Zeitangaben können wahr oder falsch sein. Sie sind in jedem Fall empirisch relevant. Das gilt natürlich auch dann, wenn ihr Gehalt nicht unmittelbar den Sinnen zugänglich ist, sondern nur indirekt geprüft bzw. plausibel gemacht werden kann. Zugleich sind diese Sätze hinsichtlich von Theorie nicht anspruchsvoll. Denn sie erklären nichts, sondern beschreiben nur einen möglichen Ist-Zustand („… ist soundso alt“). Nur wenn die Informationen ihre naturwissenschaftliche Herleitung beinhalten („Das gemessene Verhältnis der Kohlenstoff-Isotope darin lautet soundso“), oder wenn sie nur im Rahmen einer bestimmten naturwissenschaftlichen Theorie überhaupt formulierbar sind („Der metrische Tensor hat an dieser Stelle eine nicht triviale Singularität“), werden sie zu naturwissenschaftlichen Sätzen (was nicht heißt, dass sie automatisch wahr sind). 

Wenn ich aber sage: „Der Meteorit ist 4,5 Milliarden Jahre alt“, dann ist das noch nicht Naturwissenschaft, sondern schlichtweg die Behauptung, dass dieser als Meteorit bezeichnete Gegenstand vor uns 4,5 Milliarden Jahre alt ist. Auch meine Ableitung des Weltalters aus dem Koran war empirisch relevant, wie die Tatsache der naturwissenschaftlichen Forschung zum Weltalter zeigt, aber natürlich keine Naturwissenschaft. Der zugrunde gelegte Text hat eben auch ohne Naturwissenschaft einige empirisch relevante Komponenten, wenn man ein paar für den Koran plausible Prämissen gelten lässt (z. B. dass „fünfter Tag“ eine echte Zeitangabe darstellt und nicht als Hinweis auf die fünfte Strophe einer Hymne o.ä. gemeint ist).

Einwand 3: Zu behaupten, dass es im Koran im objektiven Sinne wahres empirisches Wissen geben könnte ist sehr gefährlich, da man damit Fundamentalisten die Legitimation gibt zu behaupten, dass der Koran wortwörtlich von Gott stammt, sodass auch die Normen des Korans objektiv verbindlich seien, also dass Ungläubige getötet werden müssten, wenn sie nicht zum Islam konvertieren, oder dass man Sklaven halten dürfe.

Antwort 3: Das ist ein vielfach absurder Einwand. Zum einen glauben fast alle Muslime auch ohne Koranwunder daran, dass der Koran Wort Gottes ist. Und dieselben Muslime lehnen das Töten von „Ungläubigen“ ebenso ab wie eine Wiedereinführung der Sklaverei. Und sie können dieses Verständnis mit ihrem Islam- und Koranverständnis gut begründen. An den göttlichen Ursprung des Korans zu glauben heißt also nicht, dass diejenigen fatalen Koranauslegungen, die Koranpassagen gezielt dekontextualisieren und für Unmenschliches instrumentalisieren, nun irgendwie zwangsläufig mit legitimiert wären. Es ist eher der umgekehrte Weg zu erwarten: Sobald man den Koran zumindest partiell auch an rationalen Maßstäben misst und hier Übereinstimmungen feststellt, wird man gegenüber jeglichen politischen Instrumentalisierungsversuchen des Korans noch viel kritischer und hellhöriger werden. Eine an Naturwissenschaft, Mathematik und Philosophie geschärfte kritische Vernunft wird sich in Fragen der Ethik, des Rechts und der Politik nicht plötzlich kleinlaut zurückziehen, nur weil jemand für abstruse Positionen vermeintlich irgendwelche Koranpassagen anführen zu können meint. Selbiges gilt generell, beispielsweise auch bei Juden und Christen, die ihre eigenen heiligen Schriften als Wort Gottes, und nicht nur als Menschenwort auffassen.

Einwand 4: Im Koran nach Naturwissenschaft oder nach empirisch relevanten Sätzen zu suchen ist Ausdruck eines tiefen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber der westlichen Welt, den Muslime in der Moderne entwickelt haben.

Antwort 4: Auch dies ist ein vielfach absurder Einwand. Für die meisten Muslime, die den Koran mit Naturwissenschaft aussöhnen wollen, spielt die Hauptrolle, dass die Naturwissenschaften in der Moderne das vielleicht erfolgreichste und universellste Erkenntnisprojekt der Menschheitsgeschichte überhaupt darstellen. Sie wollen Erkenntnis darüber, wie sich ihr Glaube im Angesicht des rasanten Erkenntniszuwachses bewährt. Ferner trugen alle Kulturen zur heutigen Naturwissenschaft bei. Die Muslime gehörten für fast für ein Jahrtausend zu den führenden Stimmen in allen Naturwissenschaften. Und da redet nun jemand von Minderwertigkeitskomplexen? Was man hier hinterfragen sollte ist weniger, ob da „Minderwertigkeitskomplexe“ eine Rolle spielen, sondern ob wirklich ein echtes Verständnis von realer Naturwissenschaft zugrunde gelegt wird, oder eher eine karikaturenhafte Vereinfachung von Naturwissenschaft (wie sie im Übrigen auch bei vielen Nichtmuslimen verbreitet ist).

4. Von Koranwundern zu Fragen der islamischen Kosmologie

In diesem Abschnitt möchte ich in ein paar Stichpunkten darstellen, wie die intensive Beschäftigung mit Koranwundern und ähnlichem mich letztlich zur Beschäftigung mit einem viel weiter gefassten Konzept gebracht hat, das ich pauschal als „islamische Kosmologie“ bezeichnen möchte. In den obigen Abschnitten habe ich schon viele Teilaspekte davon berührt. Im Folgenden seien noch drei persönliche „Highlights“ genannt.

Suche nach einer Theologie der Naturgesetze

Wenn man Verse wie 41:9-12 oder 21:30 parallel zu realen physikalischen Prozessen setzt, dann führt dies zwangsläufig zur Folgerung, dass das Wirken und Gebieten Allahs über die Natur überwiegend oder ausschließlich entlang von Bahnen verläuft, die durch Gesetzmäßigkeiten beschrieben werden können, die gemeinhin als „Naturgesetze“ bekannt sind. Wenn Allah zum rauchförmigen Himmel und zur Erde spricht „Kommt beide, ob freiwillig oder nicht!“ und sie antworten: „Wir sind freiwillig gekommen!“, und wenn ich dies als Beschreibung des gravitativen Kollapses des Urnebels zum Sonnensystem und weiteren Sternensystemen deute, dann bedeutet dies, dass Gottes Befehl und der Gehorsam der Materie sich in naturgesetzlich beschreibbaren Prozessen manifestieren. Wenn es Allah ist, der die Himmel und Erde nach 21:30 getrennt hat, und wenn ich dies auf die Differenzierung der kosmischen Materie nach dem Urknall aufgrund der Raumexpansion hin verstehe, dann bedeutet dies zwingend, dass Gottes Wirken (immer oder zumindest fast immer) sehr präzise durch die Gesetze der Physik beschrieben wird. Damit lande ich bei der Frage, wie eine islamische Theologie der Naturgesetze aussehen müsste, also bei Fragen der Metaphysik, mit der sich alle intellektuellen Traditionen des Islams schon befasst haben und dabei beispielsweise die Rede von Naturgesetzen als ­ʿādāt Allāh (Gewohnheiten Gottes) eingeführt haben. Wir landen hiermit also direkt im Kalām und im theoretischen Sufismus.

Atome, Elementarteilchen und Quanten

Wenn man im koranischen Sinne die Schöpfung als permanent fortgeschriebene Schöpfung Allahs an allen großen und kleinen Dingen auffasst, dann stößt man irgendwann auf die Frage, auf welche Einheiten sich Schöpfung eigentlich bezieht. Eine interessante Antwort der islamischen Kalām-Gelehrten war hier ein radikaler Atomismus, der nicht nur die Materie, sondern auch Raum und Zeit als atomar strukturiert dachte. So darf es nicht verwundern, wenn die Kalām-Gelehrten des 9. und 10. Jahrhunderts allen Ernstes darüber diskutieren, wie viele unteilbare Teilchen zusammenkommen müssen um einen ersten physikalischen Körper zu bilden. Hier finden wir also eine Atom-Metaphysik vor, die eine theistische Alternative zum materialistischen Atomismus der Antike bei Demokrit und anderen Philosophen anbietet. Als Schlüssel zum Verständnis von Materie gilt in der Moderne insbesondere die Quantenphysik bzw. die noch fundamentalere Quantenfeldtheorie. Ist es denkbar, dass sich die Kalām-Gelehrten des 9. und 10. Jahrhunderts nicht für Quantenfeldtheorie interessiert hätten?

Abschließende Frage (zum bisschen Sticheln): Für was genau interessieren sich islamische Theologen und Kalām-Gelehrte eigentlich heute?

Metaphorische Auslegung von Quellen

Eine häufig auftretende Frage betrifft die, wann und wie weit man den Koran jenseits des Wortlautes metaphorisch auslegen darf. Auch diese Frage ist nicht mit Beliebigkeit zu beantworten, wenn sie ernst gemeint ist. Im Lebenswerk des Theologen al-Ġazālī (gest. 1111) und des Philosophen Ibn Rušd (gest. 1198) finden sich Überlegungen hierzu, die Jahrhunderte geprägt haben. Sie alle kreisen um die Frage, wann rational erschlossenes Wissen sicher genug ist, dass es legitim ist dies als Hinweis zu sehen, dass hier der Wortlaut des Koran oder des Hadith metaphorisch gedeutet werden muss. Hier sind wir also in einem Grenzbereich zwischen Koranauslegung und Wissenschaftstheorie.

Oben wurde schon die Frage nach der Einbettung der Koranexegese in größere Kontexte gestellt. Ich habe im Rahmen von islamischer Kosmologie einige typische Fragestellungen genannt, die in diesem Zusammenhang interessant sind. Man kann (und sollte) sich aber ebenso mit konkreten historischen und gegenwärtigen Gedankengebäuden befassen, die Muslime (und nicht nur sie) bei ihrer Auseinandersetzung mit Kosmologie und dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion hervorgebracht haben. Um das Maß dieses Textes hier endgültig voll zu machen, möchte ich einige Beispiele für solche Gedankengebäude nennen, die historisch wichtige Modelle für von Muslimen vertretenen Kosmologien darstellen und mit denen sich auch eine zeitgenössische islamische Kosmologie auseinandersetzen sollte. An historisch tradierten Konzeptionen interessant sind beispielsweise

(a) die sehr anschaulichen und anthropomorphen islamischen Kosmologien und Metaphysiken auf Basis der außerkoranischen Überlieferung (die irreführenderweise manchmal mit islamischer Kosmologie gleichgesetzt werden, was eine problematische Verkürzung darstellt),

(b) die atomistischen Kosmologien der rationalen Kalām-Theologen,

(c) die neuplatonischen Emanationslehren der islamischen Falsafa,

(d) die tendenziell seins-monistischen Kosmologien des Sufismus mit den Namen Allahs im Zentrum der Erklärung der Vielfalt der Welt,

(e) die aus den Kulturen der Spätantike adaptierte und weiterentwickelte empirische Astronomie und Naturwissenschaft der Muslime bis zur Moderne.

Was könnte es für mich Schöneres geben als die Jahrhunderte währende Arbeit und Mühe genialer Geister der islamischen Geschichte aus allen Disziplinen zu würdigen, indem ich versuche sie zu verstehen und sie für das Hier und Jetzt fruchtbar zu machen?

In der Moderne sind als mögliche neue Kontexte, die überwiegend in nicht muslimischer kultureller Sphäre entstanden sind oder durch sie angeregt wurden und die zugleich von hoher gegenwärtiger Relevanz für den innerislamischen Diskurs sind sind, zu nennen:

(f) die insbesondere in der europäischen Moderne aufgekommene stark mathematisierte und technisierte Naturwissenschaft mit Tendenz zum Reduktionismus,

(g) die Gegenbewegung in Form plastischer Syntheseversuche, beispielsweise in Form von kreationistischen Hybridmodellen sowie Versuche einer Integration durch naturwissenschaftliche Koranexegese,

(h) dualistische Weltbilder mit einer starken Unterscheidung von Naturwissenschaft und Religion, wie sie vor allem von Teilen der christlichen Theologie vertreten werden,

(i) metaphysische Integrationsmodelle, die eine tiefere Synthese von göttlichem Schöpfungshandeln und einer durchgehenden Naturgesetzlichkeit der Erfahrungswelt formulieren.

So wie einst die vorislamischen Diskurse und Wissenschaften von den Muslimen intensiv aufgearbeitet und auf verschiedene Weisen in ihren Theologien und Philosophien berücksichtigt oder gar darin integriert wurden, findet auch in der Moderne eine ähnliche Bewegung statt. Jedoch ist das in der Moderne erreichte Niveau der Aufarbeitung gemessen am damaligen Aufarbeitungs- und Fortschreibungsstand noch niedrig. Dies hängt mit der allgemeinen kulturellen, politischen und Bildungsverfasstheit der islamischen Welt zusammen. Diese ist auch die Ursache dafür, warum selbst die zahlreichen Diskursstränge der islamischen Geistesgeschichte noch so dürftig aufgearbeitet sind. Wir werden uns daher gelegentlich also auch mit Fragen der Gegenwartssituation der Muslime befassen, wenn wir über eine zeitgenössische islamische Kosmologie Gedanken machen.

All oben genannte Kontexte liefern zahlreiche spannende und anspruchsvolle Fragestellungen, deren Bearbeitung ich unter „islamische Kosmologie“ zusammenfasse. Mein persönliches Ziel ist es die verschiedenen vorliegenden Varianten zu verstehen, sie gegeneinander abzuwägen bzw. sie füreinander fruchtbar zu machen und aus diesen vor dem Hintergrund des Wissens unserer Zeit meine eigene kosmologische Perspektive zu entwickeln. 

Abschließend noch zum Begriff: Islamische Kosmologie nenne ich es, sobald Muslime mit einem positiven Islambezug sich daran gemacht haben oder machen aus dem Wissen der eigenen Traditionen und der Menschheit Kosmologien abzuleiten, die die Glaubensgrundsätze des Islams in irgendeiner Weise berücksichtigen und mit reflektieren. Diese Kosmologien können physikalische, metaphysische und eschatologische Elemente beinhalten. Natürlich können auch Nichtmuslime sich kompetent mit islamischer Kosmologie befassen (es gibt zahlreiche Beispiele hierfür), ja diese durch eigene Perspektiven bereichern. Und islamische Kosmologie, wie ich sie hier verstehe, setzt um den spezifisch islamischen Kern herum sowohl eine allgemein-theistische Schicht, als auch eine säkular-empirische Schicht an Kosmologie bzw. Naturwissenschaft voraus. Dies macht es für den „islamischen Kosmologen“ erforderlich beispielsweise sowohl den Diskursstand insbesondere des christlich geprägten Science-and-Religion-Diskurses aufzuarbeiten, als auch den allgemeinen Stand von Naturwissenschaft generell. Islamische Kosmologie in diesem Sinne liefert also kein empirisches Gegenmodell zur modernen Kosmologie, sondern deutet den allgemeinen Kenntnisstand und seine offenen Fragen vor dem Hintergrund eines reflektierten theistischen Paradigmas islamischer Prägung.

Genau diese Art des Forschens, nämlich die Suche nach den größt denkbaren Zusammenhängen und Synthesen aus islamisch-religiösen und empirisch-rationalen Weltzugängen, ist mein Verständnis von islamischer Kosmologie!