Ich habe heute auf meinem Kosmologieblog den Volltext meines Buchkapitels mit dem Titel „Al-Ġazālī und die naturwissenschaftliche Erklärung der Welt“ online gestellt. Er erschien 2020 im Band vier der Reihe „Islamische Philosophie“, herausgegeben von Muhammad Sameer Murtaza, einst zusammen mit Murad Hofmann. Der Text behandelt die Rolle von Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gest. 1111) als Wissenschaftstheoretiker mit Blick auf das Verhältnis von Naturwissenschaft und islamischem Offenbarungsglauben. Und es verdeutlicht, dass al-Ġazālī trotz seiner distanzierten Haltung zu den Philosophen eine sehr weitreichende Offenheit gegenüber den empirischen Erkenntnissen der Naturwissenschaften an den Tag legte und noch vor Ibn Rušd dazu aufforderte im Falle von Konflikten zwischen naturwissenschaftlichen Belegen und dem Wortlaut von Koran oder Hadith letztere metaphorisch zu deuten und somit Konflikte zwischen empirischem Wissen und Offenbarung zu vermeiden.
Während al-Ġazālīs Kritiken an der Metaphysik der Philosophen große Berühmtheit erlangt hat, hat sich sein außerordentliches Engagement, unter den Theologen seiner Zeit für mehr Achtung vor der Logik und vor naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu werben eher wenig herumgesprochen. Der Beitrag verdeutlicht dieses Engagement anhand mehrerer Beispiele aus verschiedenen Werken des Gelehrten und führt in einige wissenschaftsphilosophische, theologische und historische Hintergründe seiner philosophischen Theologie ein, die auch nach seiner sufistischen Wende für einen nüchternen und reflektierten Umgang mit Erfahrungswissen stand und damit auch heute dem innerislamischen Diskurs den Horizont weitende Impulse zu geben vermag.
Der Beitrag beinhaltet auch den Versuch einer Aufarbeitung der starken Ambivalenzen in al-Ġazālīs Haltung zu den philosophischen Wissenschaften, was zum Fazit führt, dass man für ein kohärentes Ergebnis zwischen dem Wissenschaftstheoretiker al-Ġazālī und dem Bildungspolitiker al-Ġazālī unterscheiden muss. Wenn man dies tut, treten seine konjunkturell bedingten Polemiken in seinem Werk weitgehend in den Hintergrund, und man findet einen philosophierenden Theologen vor, der sich tiefgreifende Gedanken über die zeitlosen Fragen des rational haltbaren Glaubens gemacht hat.
Der Beitrag besteht auf folgenden hier direkt anwählbaren Kapiteln:
1 Einleitung
2 Was tun bei Konflikten zwischen Naturwissenschaft und Offenbarung?
3 Wie gewiss muss naturwissenschaftliche Gewissheit sein?
3.1 Von al-Ġazālī zu Einstein: Die Frage nach empirischer Gewissheit
3.2 Der Rahmen legitimer Auslegung
3.3 Al-Ġazālī und die magnetischen Kräfte, oder: die Kriterien des rationalen Beweises (burhān)
3.4 Sufistische Wende ohne Abkehr von Rationalität
4. Die Grenze der Toleranz und die Verurteilung der Philosophen
4.1 Die Verurteilung der Philosophen
4.2 Zum historischen Hintergrund von al-Ġazālīs Urteil
4.3 Ablehnung der philosophischen Wissenschaften durch al-Ġazālī
4.4 Gründe seiner Ablehnung der rationalen Wissenschaften
5. Das Fortleben der Philosophie nach al-Ġazālī
6. Fazit: acht Thesen zu al-Ġazālī