Ein Lob auf die „unverhältnismäßige Wirksamkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften“ (E. Wigner) – am Beispiel der Symmetrien in den fundamentalen Eichtheorien

1. Einleitung

Ich möchte hier eines der für mich faszinierendsten Rätsel der Philosophie der Mathematik vorstellen, nämlich die Frage nach dem Ursprung der „unverhältnismäßigen Wirksamkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften“, wie ein berühmter Artikel des theoretischen Physikers Eugene Paul Wigner zu diesem Thema heißt. Veranschaulichen möchte ich dies anhand einiger mathematischer Besonderheiten der Theorien von den fundamentalen Wechselwirkungen zwischen Elementarteilchen, die zu den erfolgreichsten naturwissenschaftlichen Theorien der Menschheit überhaupt zählen. 

In diesem Beitrag sollen dabei weniger die philosophischen Antwortversuche auf diese Frage im Mittelpunkt stehen, sondern das verwunderliche Phänomen selbst, um zu zeigen, wie tief dieser Frage heute reicht – und dass sie sich umso schärfer stellt, je erfolgreicher unsere Theorien von der Welt werden. Mein Ziel wäre erreicht, wenn dieser Text die Relevanz des Problems vor Augen führt und eine Motivation für die Einarbeitung in die philosophischen Positionen liefert, oder zumindest eine neue und interessante Perspektive auf die uns umgebende Welt vermittelt. Meine eigene philosophische und theologische Interpretation des hier dargestellten Themas ist mir persönlich sehr wichtig. Aber sie ist nicht Gegenstand dieses Beitrages, da dieser ausschließlich um Fundamente der allseits anerkannten theoretischen Physik kreist, die ihrerseits die besagten philosophischen Grundlagenfragen aufwerfen. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut (Hinweis: Die Kapitelüberschriften sind hier direkt anwählbar):

1. Einleitung
1.1 Die vier fundamentalen Wechselwirkungen in der Natur
1.2 Die mathematischen Symmetrien der fundamentalen Eichtheorien
1.3 Die beiden Grundfragen
2. Symmetrieprinzipien in der Küche, oder: Wie fand Hausmann Klaus die verschwundenen Bohnen?
3. Die Grundgleichungen der Naturgesetze als mathematische Palindrom-Sätze
4. Die Grundidee der Lorentzsymmetrie in der speziellen Relativitätstheorie
5. Vielfältige Materiestruktur dank Lorentzsymmetrie der Dirac-Gleichung
5.1 Die Klein-Gordon-Gleichung
5.2 Die Dirac-Gleichung
5.3 Die Dirac-Gleichung sagt einen Teilchenspin voraus
5.4 Die Dirac-Gleichung und Antimaterie
6. Lokale Eichsymmetrie gebiert Elektrodynamik
7. Ein Ausblick auf die Philosophie der Mathematik
Anhang 1: Zitate zur Philosophie der Mathematik
Anhang 2: Acht Positionen in der Philosophie der Mathematik
Literatur
Fußnoten

Wer sich gleich eine anschauliche Analogie aus dem Alltag zum hier dargestellten Problem durchlesen möchte, der kann direkt zu Kapitel 2 springen. Ansonsten wollen hier Schritt für Schritt die Rolle der Mathematik für die allgemeinste und grundlegendste aller Naturwissenschaften betrachten, nämlich für die Physik. Innerhalb der Physik wiederum geht es um die etablierten Theorien zur Beschreibung der bekannten vier fundamentalen Wechselwirkungen in der Natur. Damit sind vier grundlegendsten Weisen gemeint, wie die kleinsten Teilchen, aus denen die Welt besteht, aufeinander reagieren, wie sie Anziehungs- und Abstoßungskräfte aufeinander übertragen und wie sie somit letztlich auch die Struktur der Welt im Großen bestimmen. Wir wollen skizzieren, wie in den Grundgleichungen dieser Theorien aus rein mathematischen Eleganzforderungen auf der einen Seite die Physik der Antimaterie, des Teilchenspins und des Elektromagnetismus auf der anderen Seite geradezu heraussprudelt – allesamt Phänomene, über die gar keine Informationen in die Gleichungen hineingesteckt worden waren, und die teilweise experimentell überhaupt nicht bekannt waren.

Bei diesen Theorien handelt sich dabei um die erfolgreichsten, die der menschliche Geist je hervorgebracht hat, wenn man unter erfolgreich versteht, dass sie nicht nur sehr viele sehr unterschiedliche Phänomene erklären, präzise beschreiben und auf eine gemeinsame theoretische Basis stellen, sondern zugleich auch neue Phänomene vorhersagen. Dass diese oft viele Jahre oder Jahrzehnte später experimentell bestätigt werden konnten – oft in detailgetreuer Übereinstimmung mit den theoretischen Vorhersagen –, zeigt, dass diese Theorien nicht nur das Bekannte zusammenfassen, sondern auch in bislang verborgene Bereiche der Welt vordringen. Das bedeutet, dass diese Theorien beim Versuch der theoretischen Erfassung der Welt irgendwas in einem ganz grundsätzlichen Sinn „richtig“ machen. 

1.1 Die vier fundamentalen Wechselwirkungen

Die vier von diesen Theorien beschriebenen Wechselwirkungen, die fundamental für die gesamte uns bekannte Natur sind, sind heute bekannt als:

  • die Gravitation, die von den größten kosmischen Maßstäben herab bis hinunter zu unserer irdischen Erfahrungswelt die dominierende Kraft darstellt, beschrieben durch Einsteins allgemeine Relativitätstheorie (ART)
  • der Elektromagnetismus, der die Struktur der Welt von den planetarischen Maßstäben bis tief in die Atomhülle hinunter ordnet, beschrieben durch die Quantenelektrodynamik (QED)
  • die starke Wechselwirkung, die die Bestandteile des Atomkerns strukturiert, beschrieben durch die Quantenchromodynamik (QCD)
  • die schwache Wechselwirkung, die ebenfalls im Atomkern relevant ist und bei sehr hohen Materiedichten auch makroskopisch relevant wird (die mit der Quantenelektrodynamik vereint in der Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung dem Glashow-Weinberg-Salam-Modell (GSW-Modell) beschrieben wird)

Die 1916 von Einstein aufgestellte allgemeine Relativitätstheorie beschreibt die Gravitation als Scheinkraft in einer gekrümmten Raumzeit. Die allgemein anerkannte Theorie der starken Wechselwirkung, die Quantenchromdynamik, wurde in den 70er Jahren entwickelt und beschreibt die Kernkräfte aus den Wechselwirkungen zwischen Quarks, die durch sogenannte Gluonen vermittelt wird. Von den beiden anderen Kräfte, nämlich der schwachen und der elektromagnetischen Wechselwirkung – konnten 1967 Steven Weinberg, Abdus Salam und Sheldon Glashow zeigen, dass diese bei extrem hohen Temperaturen wie kurz nach dem Urknall in einer gemeinsamen vereinheitlichten Theorie, nämlich der Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung, aufgehen. Einen Sekundenbruchteil nach dem Urknall kam es demnach erst zu einer deutlichen Aufspaltung in die beiden Kräfte (durch eine sogenannte Symmetriebrechung), sodass einerseits die schwache Kernkraft entstand, die unter anderem den radioaktiven -Zerfall erklärt und bei sehr hohen Materiedichten wie bei Supernova-Explosionen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Materie von erdähnlichen Planeten spielt. Andererseits brachten diese Symmetriebrechung die elektromagnetische Wechselwirkung hervor, die durch die Quantenelektrodynamik beschrieben wird – der vielleicht erfolgreichsten und am besten überprüften der genannten fundamentalen Theorien.

Nach allem, was wir wissen (und daraus abgeleitet sinnvollerweise vermuten dürfen), lassen sich nahezu alle uns bekannten physikalischen, chemischen und biologischen Erscheinungen in der Welt in letzter Konsequenz auf diese vier fundamentalen Wechselwirkungen zwischen den Elementarteilchen, die unsere Welt aufbauen, zurückführen. Die Idee der Zurückführbarkeit der Erscheinungen auf Elementarteilchenphysik hat sich bestens bewährt, ist jedoch für komplexere Systeme, angefangen vom Wetter bis zum Bewusstsein durchaus nicht unumstritten. Die Frage nach der Reduzierbarkeit komplexer Systeme und des Bewusstseins wollen wir im Folgenden aber außer Acht lassen.

Theoretische Physiker weltweit suchen nach einer weiteren Vereinigung der elektroschwachen und starken Wechselwirkung – den beiden Grundpfeilern des „Standardmodells der Elementarteilchen“ – in einer „Grand Unified Theory“, die dann schließlich mit der allgemeinen Relativitätstheorie zu einer physikalischen „Theory of Everything“, also einer Art Weltformel verschmelzen soll. Aber dazu bedarf einiger grundsätzlich neuer Ideen – denn wie erfolgreich die genannten Theorien auch sind: Wir wissen, dass sie unvollständig sind, da sie sich in manchen Grenzbereichen des sehr Kleinen oder des sehr Massereichen teils gegenseitig widersprechen und teils wichtige Fragen (wie die Existenz von dunkler Materie, wie sie in der Astrophysik angenommen wird) offen lassen. Doch auch dieser Frage wollen hier nicht weiter nachgehen.

1.2 Die mathematischen Symmetrien in den fundamentalen Eichtheorien

Der Erfolg dieser Theorien hängt nach allem, was wir wissen, auf engste mit ihrer mathematischen Struktur zusammen. Denn diese vier Theorien sind nicht nur mathematisch formuliert, sondern besitzen dabei trotz sehr unterschiedlicher Gegenstandsbereiche die gleiche mathematische Bauart. Physiker bezeichnen sie als Eichtheorien. Ihre Entsprechung in der Sprache der Mathematiker sind die Hauptfaserbündel.

Was ist nun das Besondere an deren Bauart? Die hier betrachteten Eichtheorien besitzen eine Reihe mathematisch formulierter Symmetrien bzw. „Forminvarianzen“ –  d. h. ihre Gleichungen ändern ihre mathematische Form bei bestimmten physikalisch relevanten Transformationen nicht, z. B. beim Wechsel in ein fast lichtschnelles Bezugsystem – diese Art der Forminvarianz nennt man Lorentzsymmetrie. Ebenfalls von gleicher Form bleiben diese Gleichungen bei der Änderung bestimmter von Ort zu Ort variabler Parameter, die in den Gleichungen notwendigerweise auftauchen, und deren Änderung (bzw. „Eichtransformation“) keine im Experiment beobachtbaren Unterschiede hervor bringt. Hier spricht man von Eichsymmetrie. Beide Transformationsarten, die die Form der Gleichungen unverändert lassen, werden mathematisch durch sogenannte Lie-Gruppen beschrieben, die in der Physik auch als Symmetriegruppen bezeichnet werden.

1.3 Die beiden Grundfragen

Das Erfolgsgeheimnis dieser Theorien liegt nach allem, was wir wissen, nicht etwa in ihrer Überfülle an Informationen, sondern im Gegenteil in ihrer Einfachheit bei gleichzeitiger mathematischer Eleganz, d. h. ihrer empirisch gar nicht beobachtbaren Symmetrieeigenschaften. Man beachte also: Die hier gemeinte Eleganz bzw. „Symmetrie“ ist eine Eigenschaft des mathematischen Formalismus der Theorien und nicht die der durch sie beschriebenen und viel verworrener wirkenden Erscheinungswelt. Wir stoßen also zunächst auf die Frage nach dem Ursprung der offensichtlichen „Eleganzbedingung“: 

Warum muss eine physikalische Theorie mathematisch besonders elegant sein, um die Welt möglichst präzise zu beschreiben?

Noch verwirrender wird der Zusammenhang, wenn man bedenkt, dass ein großer Teil der in der heutigen Physik verwendeten Mathematik einst aus rein innermathematischem Interesse heraus entwickelt und erst viel später von den Physikern als Schlüssel auf dem Weg zum Verständnis der Welt entdeckt wurde. Es sind zudem gerade sehr abstrakte und alltagsferne mathematische Konzepte und Modelle, die sich als am fruchtbarsten für die fundamentalen Theorien erweisen haben, so etwa komplexe Zahlen, Lie-Gruppen und die Geometrie höherdimensionaler gekrümmter Räume. Dies ist die Frage nach dem Ursprung der „Abstrakte Mathematik & Welt-Passung“:

Wie kann es sein, dass man ausgerechnet im alltagsfremden mathematischen Elfenbeinturm innerste Strukturen der physikalischen Welt entdeckt?

Beide Fragen sind – überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich – philosophischer Art. Wie eingangs erwähnt, möchte ich hier zunächst anhand eines Beispiels aus der Quantenelektrodynamik zeigen, wie weit die Zusammenhänge zwischen rein mathematischer Eleganz und physikalischer Fruchtbarkeit reichen. Dazu wollen wir uns einige mathematische Invarianzen und algebraische Symmetrien der Quantenelektrodynamik (also konkret deren Lorentz- und Eichsymmetrie) anschauen, wie sie sich in einem ihrer wichtigsten Bausteine, nämlich der Dirac-Gleichung, zeigen. Mathematischer Ausgangspunkt dieses Beispiels ist die im 19. Jahrhundert von Galois, Lie und Cartan für rein innermathematische Zwecke entwickelte Gruppentheorie, die später in Gestalt der Lie-Gruppen zu einem Kernelement der Eichtheorien wurde.

Die Mathematiker – von Haus aus Geisteswissenschaftler – wollten damit ursprünglich algebraische Sätze beweisen und Invarianzen von Differenzialgleichungen untersuchen. Die Physiker entdeckten erst viel später, dass man unter Einsatz elementarer Lie-Gruppen die Struktur der physikalischen Welt bis in ihre innersten Bereiche nachverfolgen kann. Lie-Gruppen stehen also gerade für diejenigen Invarianzen und Symmetrien, die zentral für Eichtheorien sind. Mathematische Symmetrien als Fruchtbarkeitskriterium von physikalischen Theorien sind eine relativ späte Entwicklung, die erst sein den 40er des letzten Jahrhunderts zum leitenden Paradigma der theoretischen Grundlagenphysik wurde. Der Zusammenhang zwischen mathematischer Symmetrie und physikalischer Exaktheit ist verblüffend und schön, aber auch bizarr und vor allem: höchst rätselhaft. Wie rätselhaft dieser wirklich ist, soll folgende Analogie zeigen.

2. Symmetrieprinzipien in der Küche, oder: Wie fand Hausmann Klaus die verschwundenen Bohnen?

Der Leser stelle sich mal vor, er sei Hausmann Klaus und stellt eines Tages fest, dass alle Bohnen aus seinem Küchenschrank verschwunden sind. Wie würde er vorgehen, wenn er herausfinden möchte, was mit diesen passiert ist? Eine Möglichkeit wäre die empirische Methode: Er befragt alle in Frage kommenden Mitmenschen bzw. suchen selbst dort, wohin er die Bohnen in einem unachtsamen Moment verlegt haben könnte. Er könnte auch mit Analogiebildungen arbeiten: Wann ist in seiner Küche zuletzt etwas verschwunden, und wo ist es wieder aufgetaucht? Oder er bevorzugt einen pragmatischen Umgang und kauft sich einfach neue Bohnen (und verzichten dadurch auf den potenziellen Erkenntniszuwachs beim Aufspüren der Bohnen – dies ist die unphilosophischste, und zugleich auch die geistschonendste Alternative).

Wie würde der Leser jedoch folgendes Vorgehen beurteilen:

Hausmann Klaus geht ins Nebenzimmer, setzt sich an einen breiten Schreibtisch, nimmt sich viel Zeit und Papier und schreibt akribisch alle sinnvoll denkbaren Antwortsätze auf die Frage: „Wo sind die Bohnen hin?“ auf. Dann analysiert er all diese möglichen Sätze – und zwar nicht etwa hinsichtlich ihres Inhaltes, sondern der Symmetrieeigenschaften der Sätze. Nach getaner Arbeit ruft er aus: „Ella war’s!“.

Dabei kennt er gar keine Ella.

Im Verlauf des Tages stellt sich heraus, dass es wirklich Ella war – eine Freundin seiner Frau.

Und wie genau hat er dies herausbekommen?

Nun, er ist bei seiner Symmetriestudie zwischen den vielen tausenden Sätzen, die er aufschrieb, auf den Satz „Alle Bohnen hob Ella“ gestoßen. Bei diesem unscheinbar wirkenden Satz handelt es sich um einen Palindrom-Satz: Wenn man den Satz buchstabenweise von hinten liest bzw. ihn am Buchstaben „e“ im Wort „Bohnen“ spiegelt, erhält Klaus den selben Satz.

Man könnte sagen: Dieser Satz ist invariant unter einer Achsenspiegelung der Buchstaben. Andere Palindrome wie „Otto“ haben zwar auch Symmetrien, sind aber zu strukturarm über etwas Eindeutiges über die Welt, bzw. den Verbleib der Bohnen auszusagen. Andere Palindrom-Sätze hingegen sagen zwar alles Mögliche aus, passen aber nicht zum Problem. Hausmann Klaus hat also Sätze mit Symmetrien gesucht, die nicht zu einfach sind, und die zugleich einen Bezug zum betrachteten Problem haben. Es ist klar, dass hier unter den denkbaren tausenden Antwortsätzen nur eine Handvoll übrig bleiben musste. So bliebe nur noch der Satz „Alle Bohnen hob Ella“ übrig, den Hausmann Klaus als Information über den Verbleib der Bohnen interpretierte.

Dieses Vorgehen von Hausmann Klaus ist gemessen an der Alltagserfahrung kontraintuitiv und absurd. Es gibt schlichtweg keinen ersichtlichen Zusammenhang zwischen den Symmetrieeigenschaften von Sätzen über Bohnen auf der einen und verloren gegangenen Bohnen auf der anderen Seite. Insofern hätten wir ein echtes Rätsel der Sprachphilosophie vorliegen, wenn ein solches Vorgehen doch erfolgreich sein sollte. Wir müssten in so einem Fall fragen:

Worin besteht die Verbindung zwischen uns noch unbekannten Fakten der Welt da draußen und den Symmetrieeigenschaften von reinen Wortgebilden?

Allerdings liegt so eine Verbindung nach allem, was wir wissen, nicht wirklich vor. Die seltsame Natur der Eichtheorien der Physik hingegen liegt nun genau darin, dass sie mit einem ganz analogen Vorgehen zu Hausmann Klaus Methode im Bereich der Teilchenphysik beispiellose Erfolge vorzuweisen haben. Das ist der Grund, warum hier nun wirklich ein tiefgreifendes Rätsel im Grenzbereich zwischen der theoretischen Physik und der Philosophie der Mathematik vorzuliegen scheint. Als Frage lautet sie:

Worin besteht die Verbindung zwischen uns noch unbekannten physikalischen Fakten der Welt da draußen und den Symmetrieeigenschaften von rein mathematischen Theoriegebilden?

Das markanteste Merkmal der Eichtheorien sind in der Tat ihre vielfachen mathematischen Symmetrien, die streng berücksichtigt eine Fülle von hoch präzisen Aussagen über die Struktur unserer Welt machen, die gar nicht als Information in die Theorie mit einflossen. Die Formalismen und das System dieser Symmetrien wiederum entstammen der Algebra, die ganz andere Zwecke verfolgte. Das ist für den Physiker natürlich sehr gemütlich – es ist so ähnlich, wie wenn Hausmann Klaus nicht durch harte Eigenarbeit alle möglichen Palindrom-Sätze ausfindig gemacht, sondern diese einer aktuellen Liste der bekannten Palindrom-Sätze in deutscher Sprache entnommen hätte. Steven Weinberg umschreibt diesen Umstand so:

„Dass Mathematiker imstande sind, die in den Theorien der Physiker benötigten mathematischen Formalismen zu antizipieren, ist für die meisten Physiker etwas ganz Unheimliches. Es ist so, als hätte Neil Armstrong, als er 1969 als erster seinen Fuß auf den Mond setzte, im Staub der Mondberfläche die Fußspuren von Jules Verne vorgefunden.“ [1]

Im Folgenden wollen wir konkreter am Beispiel der Quantenelektrodynamik (QED) skizzieren, wie aus mathematischen Symmetrien einer Theorie nicht triviale physikalische Aussagen gefolgert werden. Dazu werden wir den Weg von der Lorentzsymmetrie der QED zum Spin (Eigendrehimpuls) der Elementarteilchen und zur Existenz von Antimaterie in Grundzügen nachzeichnen. Aus der lokalen Eichsymmetrie der Grundgleichung des Elektrons wiederum werden wir die Existenz und die physikalisch exakten Gleichungen elektrischer und magnetischer Felder motivieren, die die gesamte klassische Elektrodynamik beinhalten.

3. Die Grundgleichungen der Naturgesetze als mathematische Palindrom-Sätze

In der Physik sind es nicht sprachlich formulierte Sätze, sondern Theorien bzw. die Grundgleichungen der interessierenden physikalischen Größen, die Symmetrien besitzen. Symmetrie bedeutet hier, dass sich die mathematische Form der Gleichung bei bestimmten Transformationen, d. h. bei Änderungen gewisser Perspektiven nicht ändert. Beim Palindrom-Satz „Alle Bohnen hob Ella“ war die erlaubte Symmetrietransformation  eine Raumspiegelung der Anordnung der Buchstaben. Die Transformationen in der Grundlagenphysik kennen auch diese Art von echten Spiegelungen der Raumkoordinaten in den Gleichungen, sind jedoch in der Regel von einer viel allgemeineren und abstrakteren Art. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Form der Grundgleichungen unverändert lassen.

So stellt sich die Frage, inwieweit Änderungen des Bezugssystems (z. B. ein Wechsel von der Perspektive von im Café sitzenden Referendaren zur Perspektive eines mit hoher Geschwindigkeit über ihnen vorbeifliegenden Flugzeuges) ebenfalls Symmetrietransformationen für bestimmte physikalische Dinge oder Aussagen sind: Wenn die Gleichungen der fundamentalen Naturgesetze symmetrisch unter Änderungen des Bezugssystems sind, dann müssen sie im Labor hier und jetzt die selbe mathematische Form besitzen wie im schnell fliegenden Flugzeug, oder wie in einem anderen ruhenden Labor an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit. Mathematisch bedeutet dies, dass die Umrechnung der Gleichung in das neue Bezugssystem so verläuft, dass dabei auftretende neue Terme von anderen neuen Termen absorbiert werden oder so zusammengefasst werden können, dass die Form der Gleichung erhalten bleibt – eine solche Eigenschaft nennt man ein Invarianz oder Symmetrie unter Transformationen. Man beachte, dass es hier nicht um die Umrechnung von beispielsweise Flugbahnen geht, sondern um die Umrechnung der fundamentalen Bewegungsgleichung – qausi des „Naturgesetzes“ – dessen Lösungen erst Flugbahnen sind, die ihrerseits nicht in allen Bezugssystem gleich aussehen müsste. Die abstrakteren Bewegungsgleichungen sind es, die Symmetrien aufweisen müssen.

Und dies ist wohlgemerkt eine rein mathematische Eigenschaft. Sie ist nicht trivial, sondern setzt der möglichen mathematischen Form der Gleichung sehr enge Grenzen und reduziert damit die Anzahl der logisch und mathematisch erlaubten Formen für eine Gleichung immens: Symmetrieforderungen reduzieren die Zahl möglicher Gleichungen so ähnlich wie die Palindromsatz-Bedingung aus vielen tausenden grammatikalisch erlaubten Sätzen nur eine überschaubar kleine Gruppe übrig lässt. Kurzum: Ohne Symmetrieforderungen wären an sich beliebig viele Theorie mehr denkbar, die die Welt beschreiben könnten. Durch Experimente alleine wäre es viel schwieriger unter der Fülle der in Frage kommenden Theorien die angemessenste zu ermitteln.

Eine einmal etablierte Symmetriebedingung hingegen verringert die Anzahl der in Frage kommenden Theorie extrem. Darum sind sie so wichtig für die Grundlagenforschung – was noch lange nicht heißt, dass jemand wirklich versteht, warum abstrakte mathematische Symmetrien überhaupt eine so zentrale Rolle in der modernen Physik spielen. Nichtsdestotrotz sind Symmetrien (bzw. Eichsymmetrien) mittlerweile das zentrale Thema bei der Formulierung und bei der mathematischen Durcharbeitung einer jeden Theorie, die den Anspruch erhebt fundamental im Sinne der Elementarteilchenphysik zu sein. In den Lehrbüchern zur Grundlagenphysik heißt es entsprechend:

„From the modern viewpoint […] gauge symmetry [deutsch: Eichsymmetrie] is not an incidental curiosity, but rather die fundamental principle that determines the form of the Lagrangian.“ (Michael Peskin / Daniel Schroeder: An Introduction to Quantum Field Theory, Boulder (Colorado) 1995, S. 482)

Der Lagrangian, von dem hier die Rede ist, ist der heute am Anfang einer jeder Eichtheorie stehende mathematische Grundterm, aus dem die Grundgleichungen der Theorie abgeleitet werden. Die Symmetrien des Lagrangians übertragen sich dabei auf die Symmetrien der resultierenden Gleichungen.

Doch welche sind die etablierten Symmetriebedingungen in der Physik? Eine bloße Spiegelsymmetrie der Gleichung wie im Falle der Palindromsätze ist in der Physik zu einfach, da deren „Sätze“ nicht nur eine „Wirkungslinie“ in Form einer  lineare Buchstabenreihe besitzen. Vielmehr haben wir es in der Physik stets mit ganzen Satzsystemen zu tun, die miteinander eng verwoben sind und die sich im Falle eine Symmetrietransformation gegenseitig durchdringen und verändern, sodass deren Gesamtform hinterher aber dennoch die gleiche ist, wie zuvor. Man könnte auch sagen: Die fundamentalen Gleichungen, die die Natur am besten beschreiben, sind mathematisch verallgemeinerte Palindrome. Konkretsieren wir dies nun am Beispiel der Lorentzsymmetrie – der wohl allgemeinsten und allgegenwärtigen Symmetrie in der modernen Grundlagenphysik überhaupt.

4. Die Grundidee der Lorentzsymmetrie in der speziellen Relativitätstheorie

Die Transformationseigenschaften einer Gleichung hängen von dem der darin auftretenden typischen Größen ab, beispielsweise von Zeitintervallen und Raumabständen. So stellt sich die Frage, was eigentlich alles invariant bleibt, wenn man sich mit hoher Geschwindigkeit bewegt. Ist beispielsweise der von einem Vogel zurückgelegte Flugweg zwischen der Spitze des Stuttgarter Bahnhofturms und des Spitze des Fernsehturms und die dafür benötigte Flugzeit invariant unter Transformationen des Bezugssystems? „Natürlich, was denn sonst!“, würde man darauf gerne sagen. Man könnte die Flugzeit stoppen und den Abstand beispielsweise anhand einer Karte und einer Kenntnis der Lage der Spitzenpunkte über dem Meerespiegel näherungsweise mit dem Satz des Phytagoras berechnen. Das Raumabstandsquadrat würde lauten:

\( \left(\triangle s\right)_{3d-Euklidisch}^{2}=\left(\triangle x\right)^{2}+\left(\triangle y\right)^{2}+\left(\triangle z\right)^{2} \)

Ist dieses Abstandsquadrat (bzw. deren noch zu ziehende Wurzel) nun eine Invariante unter einer Drehung der Landkarte bzw. unter Wechsel in ein bewegtes Bezugssystem? Der Alltagsverstand bejaht sofort – genauso wie die gesamte klassische Mechanik vor Einstein. Aber die einzelnen x-, y- und z-Komponenten können bei einer Änderung des Koordinatensystems, z. B. wenn ich eine Karte mit einem gedrehten Koordinatensystem verwende, gemischt werden – nur der aus dem Satz des Phytagoras folgende absolute Abstand wird der gleiche bleiben. Eine solche Mischung der Raumkomponenten bei Wechsel des Bezugssystems – unter Ignorierung der Zeitkoordinate – nennt man auch eine Galilei-Transformation.

Es zeigt sich jedoch, dass sich physikalische Größen im allgemeinen nicht galilei-transformieren, sondern, dass entgegen aller Alltagserfahrung, auch die Zeitkoordinaten beim Bezugssystemwechel mit den Raumkoordinaten gemischt werden. Nur ist diese Durchmischung bei alltäglichen Geschwindigkeiten so extrem gering, dass wir dies praktisch nie bemerken. Bei höheren Geschwindigkeiten aber gilt zunehmend, dass Raumlängen aus der Perspektive eines schnell bewegten Bezugssystems verkürzt sind – also nicht nur verkürzt wirken, sondern wirklich als kürzer gemessen werden (auch genannt: Raumkontraktion). Und was für den Alltagsverstand noch bizarrer anmutet: Zeitabstände erscheinen in so einem Bezugssystem ebenfalls anders, was von außen betrachtet als eine Verlangsamung Bordzeit im schnell bewegten Bezugssystem registriert wird (auch genannt: Zeitdilatation). All dies liegt nicht an Messfehlern, sondern an einer Mischung von Raum- und Zeitkoordinaten beim Wechsel zwischen Bezugssysteme mit hoher Geschwindigkeitsdifferenz.

Gibt es dann bei hohen Geschwindigkeiten also keine Invarianten in der Raum-Zeit mehr, die aus der Sicht aller Systeme identisch sind? Doch – nur muss man dazu weg von der Alltagsanschauung. Es war Albert Einstein, der diesen Zusammenhang auflöste und feststellte, dass man nur unter gleichberechtigter Einbeziehung von Raum- und Zeitkoordinate wieder eine Physik mit invarianten Größen erhält. Dies führt unmittelbare zur speziellen Relativitätstheorie, deren Grundlage gerade die hier gefundene Lorentzsymmetrie ist. Das invariante Abstandsquadrat muss demnach um die Zeitkoordinate erweitert werden. Das Ergebnis sieht fast, aber auch nur fast wie im obigen euklidischen Fall des Raums aus:

\( \left(\triangle s\right)_{4d-Minkowski}^{2}=c^{2}\left(\triangle t\right)^{2}-\left(\triangle x\right)^{2}-\left(\triangle y\right)^{2}-\left(\triangle z\right)^{2} \)

Zum physikalisch wirklich invarianten Abstandsquadrat der zwei Ereignisse tragen hier also nicht nur die Raumabstände, sondern auch das Zeitdifferenzquadrat \( \left(\triangle t\right)^{2} \) bei, wobei der Zeitabstand \( \triangle t \) im aktuell gewählten Bezugssystems zwischen dem Start- und Ankunftsmoment des Vogels zwischen den Turmspitzen gemessen wird[2]. Die Differenz dieser Messzeitpunkte wird hier zu einem gleichberechtigten vierten Beitrag des neuen Satzes des Phytagoras: Die Physik muss also fortan vierdimensional betrachtet werden, um weiterhin Invarianzen zu erhalten. Das „c“ im obigen Ausdruck ist die Lichtgeschwindigkeit – sie ist zum einen nötig, um alle Koordinaten auf die selbe Einheit Meter zu bringen. Zum anderen zeigt sich, dass sich Licht aus der Perspektive aller noch so schnell bewegter Beobachter stets mit der universellen Geschwindigkeit von ca. 300.000 km pro Sekunde ausbreitet, sodass c für alle Bezugssysteme eine Konstante bzw. Invariante ist: Im invarianten Weg-Element tritt also nur eine invariante Geschwindigkeit auf. Aus dieser Aussage schon lassen sich viele Eigenschaften der speziellen Relativitätstheorie ableiten.

Das physikalisch und geometrisch Interessante ist nun, dass das Zeitquadrat entgegen der euklidischen Metrik mit dem gegenteiligen Vorzeichen der Raumabstandsquadrate eingeht. Man spricht hier von einer Minkowski-Signatur der Vorzeichen. Diese Vorzeichensignatur ist nicht mehr euklidisch: Die Abstandsquadrate von Raum und Zeit haben umgekehrte Vorzeichen. Warum das so ist? So ist das in unserem Universum nun einmal (wir verdanken dieser Feinheit übrigens eine Menge, aber das ist eine andere Geschichte). Man spricht hier von der Minkowski-Metrik der vierdimensionalen Raumzeit. Die Physik Einsteins ist also eine Physik der vierdimensionalen Raumzeit. Abgesehen vom Vorzeichenunterschied treten Raum und Zeit dabei völlig gleichberechtigt auf.

Bei einem Wechsel zwischen bewegten Bezugssystemen werden nun nicht – wie bei einer Raumdrehung – einfach nur die Raumkoordinaten gemischt (wie bei hypothetischen Galilei-Transformationen), sondern hier werden Raum- und Zeitkoordinaten miteinander gemischt. Eine solche Transformation nennt man eine Lorentz-Transformation. Weder Raumintervalle, noch Zeitintervalle sind dabei für sich invariant, sondern nur Raumzeit-Intervalle, berechnet mit dem Satz des Phytagoras nach der Minkowski-Metrik in vier Dimensionen.

Einstein erweiterte die klassische Mechanik nicht etwa deswegen so kompliziert, weil die Experimente seiner Zeit ihn dazu nötigten, sondern weil er einen Widerspruch in den Symmetrien der damaligen Physik erkannte auflösen wollte: Die bekannten und bewährten Gleichungen der Elektrodynamik waren erstaunlicherweise von Maxwell schon lorentzinvariant formuliert worden, d. h. diese mischten genau betrachtet bei einem Wechsel zwischen Bezugssystemen schon die Komponenten elektrischer und magnetischer Felder so, dass räumliche und zeitliche Komponenten gleichberechtigt waren. Die Mechanik Newtons hingegen trennte nach wie vor strikt zwischen Raum und Zeit, war also nur invariant unter Galilei-Transformationen.

Auch wenn dies der Alltagsphysik genügte, ahnte Einstein, dass eine einheitliche Natur auch nur eine einheitliche Art von mathematischer Symmetrie der Raum-Zeit erlauben müsste. Er hat bis heute Recht behalten.

Allmählich setzte sich die Überzeugung durch, dass alle fundamentalen Theorien lorentz-invariant sein, d. h. der speziellen Relativitätstheorie genügen müssen, weil zumindest nach aktuellem Kenntnisstand der fundamentalen Symmetrie unserer Raumzeit entspricht. D. h. in ihren Gleichungen müssen (bei geeigneter Darstellungswahl) Raum und Zeit gleichberechtigt auftreten und ihre Koordinaten müssen sich bei einem Bezugssystemwechsel nach den Regeln der Lorentztransformation miteinander mischen. Und sie machen das dabei genau so, dass die Form der fundamentalen Gleichungen der Physik invariant bleibt, was dadurch garantiert wird, dass alle darin auftretenden physikalischen Größen als lorentzinvariante (bzw. –kovariante) mathematische Ausdrücke geschrieben werden. Eben dies ist die Lorentz-Symmetrie, wie man sie insbesondere auch in allen Grundgleichungen der vier fundamentalen Wechselwirkungen wiederfindet. Die Gesamtheit der erlaubten Lorentztransformationen, die die Symmetrie, d. h. Forminvarianz der fundamentalen Gleichungen erhalten, bildet mathematisch eine Lie-Gruppe, nämlich die Lorentzgruppe O(1,3). Die konsequente mathematische Einführung dieser Lorentzsymmetrie führte neben der Vorhersage von Raumkontraktionen und Zeitdilatationen, die bis heute zigfach in Experimenten mit fast lichtschnellen Teilchen bestätigt wurden, noch zu einer Reihe anderer dramatischer Prognose und Entdeckungen, von denen nun die Rede sein soll.

5. Vielfältige Materiestruktur dank Lorentzsymmetrie der Dirac-Gleichung

5.1 Die Klein-Gordon-Gleichung

Mithilfe einer lorentzinvarianten Weiterverarbeitung des vierdimensionalen Raumzeit-Weg-Elements aus obiger Formel, ergibt sich folgender Ausdruck für die Energie E eines sich mit dem Impuls p (Impuls p ist Masse m mal Geschwindigkeit v) bewegenden Teilchens der Ruhemasse m [3]:

\( E^{2}=p^{2}c^{2}+m^{2}c^{4} \)

Wendet man auf diese lorentzinvariante Gleichung nun die hier nicht weiter vertieften „Quantisierungsregeln“ der Quantenphysik an, so erhält man eine lorentzinvariante Wellengleichung, deren Lösung die quantenmechanische Wellenfunktion des betrachteten Teilchens ist. Das ist deswegen bedeutsam, weil die moderne Physik neben Symmetrien auch die Quantennatur der elementaren Teilchen als fundamental ausgemacht hat. Und diese Quantennatur der Teilchen wird mathematisch fassbar durch eine jedem Teilchen zugeordnete Wellenfunktion, die ihrerseits eine Lösung einer quantentheoretischen Wellengleichungen ist. In unserem Ansatz erhalten wir aufgrund unseres lorentzinvarianten Ausgangspunkts eine ebenfalls lorentzinvariante Wellengleichung für ein Teilchen der Masse m:

\( \left(m^{2}+\partial_{t}^{2}-\partial_{x}^{2}-\partial_{y}^{2}-\partial_{z}^{2}\right)\phi=0 \)

Aus dem Quadrat der Energie und den Quadraten der drei Impulskomponenten sind hier zweite Ableitungen nach der Zeit t bzw. nach den Ortskoordinaten x, y und z geworden. Somit haben wir eine sogenannte Differenzialgleichung zweiter Ordnung vorliegen, die als Klein-Gordon-Gleichung bekannt ist. Aufgrund einer üblichen Konventionswahl bei relativistischen Wellengleichungen ist das c nicht mehr sichtbar (ebenso wie das plancksche Wirkungsquantum \( \hbar \), das bei der Quantisierung eingeführt wird). Es lässt sich leicht zeigen, dass Lorentztransformationen die Form der Gleichung invariant lassen[4]. Deutlich sichtbar ist die Gleichberechtigung von Raum- und Zeitkoordinaten – hier in Form von Ableitungen zweiter Ordnung -, wie es ja von der Lorentzsymmetrie verlangt wird. Eben diese Gleichberechtigung und die spezielle Vorzeichenverteilung erweist sich als Ursache dafür, warum ab einer höheren Stufe der Theorie, neue physikalische Phänomene wie die Existenz von Antiteilchen und die kreiselförmige Rotation von Elementarteilchen vorhergesagt werden. All dies unterscheidet diese Gleichung beispielsweise auch von der nichtrelativistischen, d. h. nicht lorentzinvarianten Schrödinger-Gleichung, in die solche Phänomene erst nachträglich quasi von Hand künstlich eingeführt werden müssen.

Die Lösungen der Klein-Gordon-Gleichung sind sich ausbreitende Wellen, wobei der Wert der Welle an jedem Raumpunkt für sich definiert ist[5]. Aus der Wellenfunktion lässt sich eine Art Wahrscheinlichkeit[6] berechnen das Teilchen zu einer bestimmten Zeit am vorgegebenen Raumpunkt vorzufinden.

Nun ist es aber auch so, dass die Lösungen der Klein-Gordon-Gleichung das Problem haben, dass eigentlich als positiv erwartete Wahrscheinlichkeiten teils negativ sind, was eine nachträgliche Umdeutung nötig macht (z. B. als elektrische Ladungsdichte). Alles in allem bleiben unschöne Stellen, deren Ursache ebenfalls die zweiten Ableitungen sind, die wir oben noch gelobt haben.

Nun fordert die Lorentz-Symmetrie aber auch gar nicht zweite Ableitungen, sondern nur eine Gleichberechtigung der Ableitungen nach Ort und Zeit. Auch wäre eine erste Ableitung sparsamer als eine zweite Ableitung – wie gesagt war in der nichtrelativistischen Schrödingergleichung die Ableitung nach der Zeit schon erster Ordnung, wodurch negative Wahrschenlichkeiten vermieden wurden, während die Ableitungen nach dem Raum aber zweiten Grades waren.

5.2 Die Dirac-Gleichung

Die Frage wäre also: Ist es möglich eine quantenmechanische Wellengleichung zu finden, die – wie die Klein-Gordon-Gleichung – Lorentzsymmetrie besitzt, die aber in den Zeit- und allen Ortsableitungen nur von erster Ordnung ist? Das wäre mathematisch nicht nur einfacher, sondern könnte vielleicht auch die genannten Nachteile umgehen. Mit solchen Überlegungen versuchte der Physiker Paul Dirac eine quantenmechanische Wellengleichung erster Ordnung zu finden, die ebenfalls lorentzinvariant war. Das Ergebnis lässt sich unter anderem als eine Art Wurzelziehen aus der Klein-Gordon-Gleichung bestimmen und ist heute bekannt als die Dirac-Gleichung, hier in kompakter Schreibweise:

\( \left(i(\gamma^{0}\partial_{t}+\gamma^{1}\partial_{x}+\gamma^{2}\partial_{y}+\gamma^{3}\partial_{z})-m\right)\psi=0 \)

„i“ ist hier die imaginäre Einheit. Dem folgt eine Summe aus vier Summanden, die je aus einer Matrix \( \gamma^{\mu} \) und je einer ersten Ableitung \( \partial_{\mu} \) nach der Zeit- bzw. einer Raumkoordinate bestehen. Entscheidend war die mathematisch gewonnene Einsicht Diracs, dass eine solche Gleichung aus algebraischen Gründen jedoch keine einkomponentige Gleichung mehr sein kann, sondern dass die Wellenfunktion nunmehr ein vierzeiliger „Spinor“ sein muss, also

\( \psi=\left(\begin{array}{c}
\psi_{1}\\
\psi_{2}\\
\psi_{3}\\
\psi_{4} \end{array}\right) \)

Demnach ist die Dirac-Gleichung mathematisch auch nur als gekoppeltes System von nunmehr vier sehr ähnlichen Differenzialgleichungen möglich, das stets vier miteinander verwandte Lösungen zugleich besitzen muss. Dem entspricht, dass die Ableitungsoperatoren Faktoren besitzen, die 4×4-Matrizen sind. Diese Faktoren \( \gamma^{\mu} \), die als Gamma-Matrizen bekannt sind, sind dabei per Definition so gewählt, dass die Gleichung lorentzsymmetrisch bleibt, d. h. bei Umrechnungen in andere bewegte Bezugssysteme die selbe Form behält, und dass nebenbei stets alles vier Zeilen ihrer Lösungen stets auch einzeilige Lösungen der Klein-Gordon-Gleichung sind (aus der ja die Dirac-Gleichung motiviert wurde)[7].

Fassen wir also zusammen: Wir sind bei der lorentzinvarianten Energie-Impuls-Beziehung eines Teilchens gestartet, haben daraus eine lorentzinvariante quantenmechanische Wellengleichung gemacht und versucht diese so zu bearbeiten, dass nur noch erste Ableitungen (also die einfachsten) nach Raum und Zeit darin auftreten. Dies hat uns zur ebenfalls lorentzsymmetrischen Dirac-Gleichung geführt, die eine Teilchen mit Masse m aber nicht mehr mit nur einer Wellenfunktion beschreibt, sondern notwendigerweise mit vier zugleich.

5.3 Die Dirac-Gleichung sagt einen Teilchenspin voraus

Eine genauere Analyse der als Lösungen auftretenden „Dirac-Spinoren“ zeigt nun, dass diese Teilchen eine der Theorie bisher fremde innere Eigenschaft besitzen. Diese Teilchen drehen sich nämlich wie Kreisel um ihre eigene gedachte Achse[8]. Dabei gibt es bei einer Drehachse, die in Flugrichtung zeigt, nur zwei Möglichkeiten sich zu drehen: Entweder rechtshändig mit einem konstanten Drehimpuls von \( \hbar/2 \) oder linkshändig mit dem selben Drehimpulsbetrag[9]. Diese Eigenschaft nennt man den „Spin“ eines Teilchens. Der Spin lässt sich weder stoppen, noch vergrößern oder verkleinern. Nur ein Wechsel zwischen beiden Werten ist denkbar. Wohlgemerkt: Der Spin tritt ausschließlich auf, weil wir Lorentzsymmetrie einforderten. Experimentell wird diese Eigenschaften für alle elementaren Materieteilchen vorgefunden, die wir kennen, d. h. für Elektronen und die exotischen Neutrinos, sowie für die Quarks, aus denen die Kernteilchen Proton und Neutron bestehen. Ja: Die Dirac-Gleichung ist die fundamentale Gleichung der elementaren Materieteilchen überhaupt und tritt in dreien der vier elementaren Eichtheorien auf. Nur die allgemeine Relativitätstheorie muss im Moment noch ohne eine Dirac-Gleichung auskommen (die Gründe sind kompliziert und hängen primär mit mathematischen Unverträglichkeiten zwischen Quantenphysik und allgemeiner Relativitätstheorie zusammen, die ihrerseits auf die Unvollständigkeit der aktuellen Physik hinweisen).

Der halbzahlige Spin des Elektrons ist derweil wesentlich mehr als nur eine Skurrilität in der Teilchenwelt: Seiner Existenz verdanken wir die Tatsache, dass sich die Elektronen eines Atoms nicht alle in der untersten Schale sammeln und eine strukturarme Welt hervorbringen, sondern dass sich höchstens zwei Elektronen (mit je unterschiedlichem Spin) in je einem Orbital befinden dürfen, sodass schwerere Atome eine hoch komplexe Schalenstruktur aufweisen. Dabei gäbe es in der untersten Atomschale mehr als genug Platz für alle Elektronen des Atoms[10]. Es ist vielmehr eine Antisymmetrie-Eigenschaft von Elektronen-Wellenfunktionen, die es verbietet, dass sich mehrere Elektronen im selben Zustand sammeln und damit das Periodensystem der Elemente um seine reichhaltige Struktur berauben. Denn Teilchen mit halbzahligem Spin, wie sie von der Dirac-Gleichung beschrieben werden, gehorchen der Fermi-Dirac-Statistik, für die das oben beschriebene „Pauli-Verbot“ der Chemie gilt. Für Teilchen mit ganzzahligem Spin hingegen gilt die Einstein-Bose-Statistik, die eine Anhäufung von Teilchen im gleichen Zustand erlaubt, oder gar bevorzugt.

Fazit: Wir dürfen uns sicherlich glücklich schätzen, dass für die fundamentalen Gleichungen der Physik die Lorentz-Symmetrie gilt, dass es deswegen auch einen Spin der Elektronen gibt, und dass sein naturgegebener Wert so ist, dass die Elektronen dazu genötigt sind die ganze potenzielle Komplexität der Atomhülle auszunutzen und so unsere vielfältige Welt zu erzeugen!

5.4 Die Dirac-Gleichung und Antimaterie

Nun bräuchte es zur Beschreibung zweier möglicher Spin-Zustände aber keine vierzeiligen Dirac-Spinoren. Zwei Zeilen hätten gereicht, wenn dies schon „alles“ wäre. Der eigentliche Clou der vierzeiligen Lösung liegt jedoch darin, dass darin nicht nur eine Art von Elektron, sondern zwei Arten realisiert sind. Am deutlichsten treten dessen Eigenschaften hervor, sobald die elektrischen Ladungen der beiden Teilchen betrachtet werden. Dem gewöhnlichen Elektron wird dabei zunächst die bekannte negative elektrische Ladung -e zugesprochen[11]. Dann findet man, dass die Lösung der Dirac-Gleichung neben diesem einen Elektron automatisch auch eine andere Art von Elektron zu beschreiben scheint, dass jedoch erstaunlicherweise eine positiven elektrischen Ladung +e besitzt. Dieses seltsame „Schwesterelektron“ besitzt dabei jedoch die gleiche Masse m wie das „eigentliche Elektron“. Dirac selbst rätselte lange an dieser Vorhersage seiner Gleichung. Vergeblich versuchte er das eine Teilchen als gewöhnliches Elektron und das andere als Proton zu interpretieren, das dieselbe positive Ladung trägt, wie die Dirac-Gleichung für das „Schwesterelektron“ voraussagt – dies scheiterte jedoch daran, dass das Proton im Gegensatz zur Aussage der Gleichung fast 2000mal schwerer war als das Elektron.

Warum es Dirac schwer fiel die Vorhersage seiner Gleichung stattdessen als Beschreibung eines „echten“ Anti-Elektrons zu sehen, das die selbe Masse, aber die umgekehrte Ladung des bekannten Elektrons hatte, erklärt der Meister so: 

„Ich wagte es einfach nicht, zu jener Zeit ein neues Teilchen zu postulieren, denn das ganze Meinungsklima war damals gegen neue Teilchen.“[12] 

Schließlich rang sich Dirac durch sich hinter diese „Anti-Lösung“ zu stellen. Aus ihr folgte auch, dass nicht nur das Elektron, sondern alle durch die Dirac-Gleichung beschriebenen Teilchen ein entgegengesetzt geladenes Antiteilchen der selben Masse besitzen, die unter günstigen Bedingungen in Teilchenreaktionen real erzeugt werden können. Forderungen nach mathematischer Konsistenz und Symmetrie hatten somit zu einem gewaltigen Umbruch in der Grundlagenphysik eingeläutet.

Das Anti-Elektron Diracs wird heute als Positron bezeichnet. Die weiter entwickelte Theorie sagt alle ihre Eigenschaften präzise voraus. Wenn ein Positron auf ein Elektron trifft, dann vernichten sich die Teilchen gegenseitig und die Energie wird in Form von Gamma-Strahlung freigesetzt. Umgekehrt können sich hochenergetische „Lichtteilchen“ (unsichtbare, „harte“ Gammaquanten“) in ein Positron und Elektron zurück verwandeln. Mittlerweile weiß man, dass die Eichtheorien ohne die prinzipielle Existenz dieser Antiteilchen mathematisch an zahlreichen Stellen inkonsistent wären: Die Lorentzsymmetrie ist also nicht nur die Grundlage der Vorhersage von Antiteilchen, sondern gewährleistet in einem fortgeschrittenen Stadium der Theorie, dass überhaupt etwas ausgerechnet werden kann. Aber die Antiteilchen haben auch aktuelle physikalische Relevanz. So entstammen ca. 10 Prozent der Energie, die von der Sonne kommt, einer Zerstrahlung von Elektronen und Positronen[13].

Trotz der Gleichwertigkeit von Teilchen und Antiteilchen in der Dirac-Gleichung bleibt aber noch ein kosmologisches Rätsel offen – zu Beginn unseres Universums, so sagen die Gleichungen voraus, muss aus der Energie des Urknalls genauso viel Materie wie Antimaterie erzeugt worden sein. Dann hätten sich die Teilchen aber gegenseitig vernichtet und unser Universum müsste ein abgekühltes, homogenes und langweiliges Strahlungsmeer sein. Die Beobachtung weist aber auf einen rettenden Webfehler in der Welt hin: Auf eine Milliarde Antiteilchen trafen offensichtlich eine Milliarde und ein Teilchen. Die eine Milliarde vernichteten Teilchenpaare zeigen ihren Nachhall heute noch in der Hintergrundstrahlung. Aus dem quantitativ kaum nennenswerten Rest hingegen ist unsere Welt entstanden. Offensichtlich muss es Prozesse in bestimmten Bereichen der Physik geben, die die Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie leicht verletzen, sodass unsere Welt erklärbar ist. Offensichtlich bedarf es bei aller Symmetrie immer wieder auch der Symmetrieverletzungen, um hinreichend Struktur in der Welt zu erzeugen. Die physikalische Ursache dafür ist noch ungeklärt, müsste aber im Rahmen einer erfolgreichen vereinheitlichten Theorie verständlich werden. In jedem Fall ist auch hier die Hoffnung eine höhere Symmetrie oder ein anderes höheres Prinzip zu finden, die von sich aus bei niedrigeren Temperaturen zu Symmetriebrechungen in bestimmten Sektoren der Theorie führt.

Wir können dieses Kapitel über Antimaterie und das Positron mit Rüdiger Vaas Feststellung abschließen:

„Es [das Positron] ist das erste Teilchen, das gleichsam dem reinen Denken entsprungen ist – eine Erfolgsstory, die sich auf ähnliche Weise noch oft in der Geschichte der Elementarteilchenphysik wiederholen sollte.“[14] 

Dirac selbst drückte dies so aus:

„Meine Gleichung war klüger als ich.“[15]

6. Lokale Eichsymmetrie gebiert Elektrodynamik

Die Lorentzsymmetrie ist eine Symmetrie im Bereich der Raumzeit – auch genannt äußere Symmetrie. Eine mögliche anschauliche Interpretation wäre es zu sagen, dass es in der Natur kein ausgezeichnetes Bezugssystem gibt: In allen Bezugssystemen sehen die Gleichungen gleich aus. Dies ist eine nicht triviale Aussage, deren Erfolgsgeschichte auf das 20. Jahrundert zu datieren ist – zum einen wegen der Idee der physikalischen Gleichberechtigung aller Bezugssysteme, zum anderen, weil diese Gleichberechtigung primär den mathematischen Formalismus betrifft.

Es gibt jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Symmetrien in den modernen Eichtheorien, die mindestens so weitreichende Konsequenzen haben. Diese beziehen sich aber auf innere Freiheitsgrade der Wellenfunktionen der Teilchen, was ungemein abstrakter, aber hinsichtlich ihrer physikalischen Konsequenzen aber umso erstaunlicher ist.

Wir waren zuletzt bei der Dirac-Gleichung stehengeblieben:

Die aus der Dirac-Gleichung gewonnene Wellenfunktion des Elektrons erlaubt eine Berechnung der Wahrscheinlichkeit seines Aufenthalts an einem bestimmten Ort [16]. Dabei kann die Wellenfunktion selbst positive und negative Werte annehmen [17]. Erst das Betragsquadrat der Wellenfunktion für einen bestimmten Ort und einen bestimmten Zeitpunkt ist streng positiv definit und wird als Wahrscheinlichkeit (bzw. Wahrscheinlichkeitsdichte, da jeder Raumpunkt erlaubt ist) definiert das Elektron an diesem Ort vorzufinden.

Das bedeutet, dass für einen gegebenen Raumzeitpunkt nicht der genau Wert der Wellenfunktion (samt positivem oder negativem Vorzeichen), sondern nur das (stets positive) Betragsquadrat eine physikalisch messbare Bedeutung hat. Dies wiederum bedeutet, dass es für die physikalisch relevante Aussage nur darauf ankommt, welchen absoluten Betrag die Wellenfunktion an einem Raumzeitpunkt hat, und nicht welches Vorzeichen: Ob „Berg“ oder „Tal“ ist irrelevant für das Betragsquadrat [18]!

Genau solche letztlich irrelevant anmutenden Vieldeutigkeiten der beschreibenden Mathematik bei gleichbleibendem physikalischem Messresultat sind es, in denen Physiker Symmetrien wittern. Hier beispielsweise bietet sich folgender „Symmetrieverdacht“ an:

Die Dirac-Theorie und die physikalische Bedeutung der Lösung der Dirac-Gleichungen bleiben invariant (also unverändert), wenn man alle mathematischen Wellentäler durch Wellenberge und alle Wellenberge durch Wellentäler ersetzt, da letztlich nur das Betragsquadrat der messbaren Aufenthaltswahrscheinlichkeit entspricht.

Die bedeutet, dass die Wellenfunktion um einen Vorfaktor vom Betrag 1 ergänzt werden kann, also insbesondere auch durch -1 (bzw. jeder anderen komplexen Phase des Betrags 1). Dieser zusätzliche Faktor heiße hier \( \alpha \). Die Dirac-Gleichung stört sich nicht daran, wenn die Lösungsfunktion \( \psi \) durch \( \alpha\psi \) ersetzt wird, solange \( \alpha \) eine Konstante vom Betrag 1 ist, die nicht von Raum und Zeit abhängt. Denn es gilt beim Vergleich der Betragsquadrate:

\( \left|\psi_{transformiert}\right|^{2}=\left|\alpha\psi\right|^{2}=\left|\alpha\right|^{2}\left|\psi\right|^{2}=\left|\psi\right|^{2} \)

Man sagt: Die Dirac-Theorie ist invariant unter globalen Phasen- bzw. Eichtransformationen. Die Menge der erlaubten Phasentransformationen bildet die abelsche Lie-Gruppe U(1). Diese scheinbar triviale Symmetrie erweist sich im Rahmen der feldtheoretischen Behandlung als Ausgangspunkt des Beweises eines fundamentalen Theorems, nämlich dem der Ladungserhaltung.

„Global“ heißt die Symmetrie, weil der zusätzliche Phasenfaktor gleichzeitig an allen Raumzeitpunkten mit dem selben Wert auftritt und somit die selbe (empirisch irrelevante) Wirkung zeigt. Der Phasenfaktor -1 beispielsweise kehrt gleichzeitig alle Berge und alle Täler in ihr Gegenteil um. Wenn aber einmal der Gedanke der Symmetrie aufgekommen ist, kann man hier gleich weitermachen: Dann müsste es doch auch möglich sein für jeden Raumpunkt separat zu entscheiden, ob man dort die Wellenfunktion stehen lässt, oder spiegelt[19]. Ferner sollte man diese Entscheidung auch in jedem Raumpunkt zu jedem Zeitpunkt ändern können. Für das Betragsquadrat, auf das es empirisch, d. h. in der experimentellen Situation ankommt, ist das gleichgültig.

Oder anders formuliert: Kann man die globale Eichtransformation auch lokal machen, d. h. von Raumzeitpunkt zu Raumzeitpunkt unterschiedlich handhaben? Dies führt dazu, dass der konstante Phasenfaktor \( \alpha \) zu einer Funktion \( \alpha(t,\overrightarrow{x}) \) wird. Die Lorentzkovarianz der Dirac-Gleichung

\( \left(i(\gamma^{0}\partial_{t}+\gamma^{1}\partial_{x}+\gamma^{2}\partial_{y}+\gamma^{3}\partial_{z})-m\right)\alpha(t,\overrightarrow{x})\cdot\psi=0 \)

hält diese viel stärkere Bedingung jedoch nicht aus – der Grund liegt in den partiellen Ableitungen links. Aufgrund der Produktregel entstehen bei lokal variablem Phasenfaktor neue additive Terme, sobald \( \alpha \) keine Konstante mehr ist: Die Forminvarianz und somit Eichinvarianz wäre somit zerstört.

Was will der Physiker nun: Die bisher einfache Forminvarianz der Gleichung (aus der man via Noetherschem Theorem immerhin die Ladungserhaltung ableiten konnte), oder eine Einführung der Möglichkeit auch lokal verschiedener Phasentransformationen (deren Nutzen im Moment nur in einem barocken Mehraufwand zwecks Angeberei zu liegen scheint)?

Die Antwort lautet: beides!

Doch wie bekommt man beides zugleich?

Hier haben die Physiker pragmatisch argumentiert: Wenn wir die Dirac-Gleichung von Anfang an um einen neuen additiven Term ergänzen, der sich per Definition genau so transformiert, dass er die neuen additiven Terme einfach wegsubtrahiert, dann kann man lokale Phasentransformationen der Wellenfunktion zulassen und zugleich die Gleichung eichinvariant lassen.

Das ist so, wie wenn Hausmann Klaus etwas längere Nahezu-Palindromsätze anderen etwas kürzeren Palindromsätzen vorzieht (zwecks Angeberei) und dabei geduldig versucht seltsame Füllwörter und nichts sagende Vokaldehnungen einzubauen, um aus dem längeren Fast-Palindromsatz einen echten Palindromsatz zu machen (und dann allen ernstes zu hoffen, dass er darin dann noch präzisere Antworten auf den Verbleib seiner Bohnen findet.

Der additive Term ist als „Eichfeld“ bekannt und hat in Komponentenschreibweise die Form \( A_{\mu} \). Zu jedem Ableitungsoperator muss die entsprechende seiner vier Komponenten dazu addiert werden. Zusammen werden Ableitungsoperator plus Eichfeld wieder mit der zugehörigen 4×4-Matrix der Dirac-Gleichung multipliziert. Die Gleichung muss also so erweitert werden zu:

\( \left(i(\gamma^{0}(\partial_{t}+ieA_{t})+\gamma^{1}(\partial_{x}+ieA_{x})+\gamma^{2}(\partial_{y}+ieA_{y})+ \\~~~~~\gamma^{3}(\partial_{z}+ieA_{z}))-m\right)\alpha(t,\overrightarrow{x})\cdot\psi=0 \)

Eben dies verstehen Physiker unter „schön“ und „einfach“ (Die Faktoren i und e für die elektrische Ladung sind konventionsbedingt). Etwas plausibler wird das Eleganzurteil, wenn man die naheliegenden Kompaktschreibweisen einführt, wie sie in der Physik üblich sind. Die Gleichung lautet dann

\( \left(i(\gamma^{\mu}(\partial_{\mu}+ieA_{\mu})-m\right)\psi=0 \)

Und noch besser:

\( \left(i(\partial\!\!\!/+ieA\!\!\!/)-m\right)\psi=0 \)

Oder am besten gleich

\( \left(iD\!\!\!/-m\right)\psi=0 \)

Die hier verwendeten Symbole sind ein Ausdruck der Lorentzkovarianz. Diese Gleichung besitzt nun die Eigenschaft der lokalen  Eichsymmetrie. Sie wurde erkauft zum Preis einer Ad-hoc-Einführung eines neuen additiven Termes, dessen einziger Zweck es war sich per Definition genau so zu transformieren, dass die durch die Produktregel bedingten Zusatzterme bei einer lokalen Phasentransformation aufgehoben werden.

Ein zweiter Blick offenbart jedoch etwas Erstaunliches: Das Eichfeld \( A_{\mu} \) erfüllt alle algebraischen Eigenschaften des relativistischen Viererpotenzials der klassischen Elektrodynamik, aus der die gesamte Physik des Elektromagnetismus folgt. Die klassische Elektrodynamik weiß ihrerseits aber offiziell weder etwas von quantenmechanischen Wellenfunktionen, noch von der Dirac-Gleichung.

Eine genauere Analyse zeigt, dass für das Eichfeld jenseits der Dirac-Gleichung noch eine ebenfalls eichsymmetrische dynamische Größe postuliert werden muss, die die „Kommunikation“ zwischen benachbarten Punkten des Eichfeldes sichert – bei der Wahl des einfachsten dynamischen Termes, der eichsymmetrisch und lorentzsymmetrisch ist, kommt man zum beeindruckenden Ergebnis, dass man quasi als Nebenprodukt der lokalen Eichinvarianzforderung für die Wellenfunktion des Elektrons die gesamte Maxwelltheorie des Elektromagnetismus aus reinen Symmetrieforderungen hergeleitet hat. Ja: Die Einführung des Eichfeldes in die Dirac-Gleichung hat fast mit mathematischer Notwendigkeit die gesamte Elektrodynamik durch die Hintertür in die Welt der einsamen Spin-1/2-Teilchen (mit Ladung) eingeführt.

Das Eichfeld führt aber nicht nur auf die Maxwellgleichungen der Elektrodynamik, die alle klassischen elektromagnetischen Erscheinungen korrekt beschreiben. Sondern es hat im Rahmen der Quantenelektrodynamik (QED), die man erhält, wenn man obige Gleichungen quantenfeldtheoretisch auswertet, zu einer Vorhersage des Wertes des magnetischen Moments des Elektrons geführt – diese Vorhersage wurde experimentell exzellent bestätigt, nämlich bis 12 Stellen nach dem Komma, d. h. bis auf ein Billionstel genau. Wenn man sich den Ursprung dieser empirisch exzellent bestätigten Vorhersage aus fundamentalen Symmetrieprinzipien und sehr allgemeinen quantenfeldtheoretischen Formalismen bewusst macht, dann erscheint das so, wie wenn Hausmann Klaus auf der bis an die Spitze getriebenen Suche nach seinen Bohnen im Wald der Palindromsätze nicht nur seine Bohnen, sondern noch ganze Kochbücher entdeckt hätte, die bislang niemand außer ihm kannte.

7. Ein Ausblick auf die Philosophie der Mathematik

Vergleichbare Ergebnisse liefern auch die anderen Eichtheorien der vier fundamentalen Wechselwirkungen: Die konsequente Forderung lokaler Eichsymmetrie erzeugt zunächst Schwierigkeiten, liefert dann aber nach Einführung entsprechender Eichfelder ein großes Sortiment an qualitativ neuartigen Vorhersagen zur empirischen Welt, die sich experimentell exzellent bestätigen. So hat die Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung nach Einführung entsprechender Eichfelder unter anderem die Existenz der zugehörigen bosonischen Teilchen, namentlich der W- und Z-Bosonen, vorhergesagt. Die Quantenchromodynamik (QCD) wiederum sagte die Existenz von acht Gluonensorten voraus (acht ist die Anzahl der mathematischen Generatoren der SU(3)-Farbsymmetriegruppe der QCD), die die Kräfte zwischen den Quarks vermitteln. Aus der Nichtabelizität der SU(3) ließ sich ableiten, dass auch zwischen den Gluonen Anziehungskräfte herrschen, wie die Empirie bestätigte. Numerische Rechnungen im Rahmen der QCD-Gittereichtheorie wiederum zeigten, dass daraus letztlich folgt, dann die Kraft zwischen den Quarks mit einer Vergrößerung des Abstandes im Unterschied zu den elektrischen Kräften der QED nicht abnimmt, sondern konstant bleibt – dies ist eine experimentell wohl bekannte Eigenschaft von Quarks, wie man sie aus Streuversuchen kennt, und die als Quark-Confinement bekannt ist. Das Besondere ist hier, dass die Theorie dazu eben nicht aus dem Experiment abgeleitet wird, sondern aus einer abstrakten mathematischen Symmetrie. Die Allgemeine Relativitätstheorie wiederum hat mit ihren eigenen Symmetrieprinzipien im Unterschied zur Newtonschen Gravitationstheorie nicht nur die Existenz von schwarzen Löchern, sondern auch die damit verbundenen Raum- und Zeitverzerrungen in ihrer Umgebung quantitativ exakt vorhergesagt.

Wie ist das alles nun zu deuten? Und wo ist hier eine Antwort auf Wigners Frage nach dem Ursprung der unverhältnismäßigen Effizienz der Mathematik geblieben? Hierauf gibt es nach wie vor unterschiedliche Ansätze von philosophischen Antworten, die ich im Anhang 2 unten kurz skizziert habe. Eine Diskussion der philosophischen Fragen nach den Für und Wider der einzelnen Positionen würde letztlich nicht weniger umfangreich ausfallen, als die bisherige Darstellung des Phänomens. Dies würde ich gerne auf einen späteren Zeitpunkt verschieben und hier nur ein paar eigene, sehr knappe und subjektive Eindrücke wiedergeben.

Zum einen meine ich, dass die von Seiten der evolutionären Erkenntnistheorie vorgebrachten Erklärungen einen Teil der Frage beantworten, aber einen anderen wesentlichen nicht. Sie beantwortet die Frage, warum wir überhaupt mathematikfähig sind, und warum elementare Arithmetik und Geometrie so erfolgreich bei der Weltbewältigung sind: Demnach machte die Entwicklung einer euklidischen geometrischen Anschauung und eines Zahlen- und Mengenbegriffs sowie der Fähigkeit mit abstrahierten Mengen zu operieren und darüber zu kommunizieren den Menschen überlebensfähiger. Darum setzte sich diese Fähigkeit auch evolutionär durch, sodass wir uns nicht wundern müssen, wenn die in der Schule erlernte Mathematik plötzlich außerordentlich erfolgreich im Alltag einsetzbar ist.

Aber: Die evolutionäre Erkenntnistheorie lässt eine entscheidende Frage offen, nämlich warum wir mit unseren mathematischen Ansätzen unverhältnismäßig mehr mehr können, als den Alltag im Mesokosmos zu bewältigen. Es bleibt offen, warum wir mit unserer einfachen Mathematik Milliarden Lichtjahre in den Kosmos und Milliarden Jahre in die Vergangenheit blicken können. Insbesondere bleibt offen, warum sich ausgerechnet die abstraktesten mathematischen Konzepte, die nichts mit unserem Überleben im Alltag zu tun haben können, die zentralen Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur zu sein scheinen: Die Lorentzsymmetrie ist für eine vierdimensionale Raumzeit mit nichteuklidischer Metrik definiert. Quantenphysik arbeitet mit Zustandsvektoren, die einem unendlich dimensionalen Vektorraum angehören. Es sind nicht reelle, sondern komplexe Zahlen, die der Weltbeschreibung der Quantenphysik am angemessensten zu sein scheinen.

Und last but not least sind es Symmetrien, die in irgendeinem rätselhaften Sinn fundamental für die Natur zu sein scheinen. Eine hohe Brisanz für allzu einfach gehaltene Materialismen, Naturalismen und Sensualismen ergibt sich daraus, dass sich diese Symmetrien offensichtlich nicht unmittelbar auf die empirisch zugänglichen Dinge beziehen, sondern auf mathematische Theorien von den Dingen. Erst wenn diese Theorien ein gewisses Eleganzniveau erreicht haben, machen sie wesentlich weitreichendere empirische Prognosen über die Welt, als sie von Seiten ihrer Erfinder ursprünglich sollten. Freilich ist es denkbar, dass durch einen günstigen Zufall Symmetrien immer wieder dabei helfen empirisch einwandfreie Gleichungen zu erraten.

Bedenkt man aber, dass diese Symmetrien in praktisch allen fundamentalen Theorien auftauchen und sehr unterschiedlicher Gegenstandsart sind – man vergleiche alleine die Gegenstandsbereiche der Lorentzsymmetrie und der Eichsymmetrie – und sich nur in ihrer mathematischen Bauart ähneln, dann wird auch noch eine andere Option interessant, nämlich dass der Urgrund der Dinge kein materieller (im Sinne von kausal wirksamen Teilchen und Feldern), sondern ein mathematischer (oder gar geistiger?) im Sinne eines Platonismus ist, der von zeitlosen ideellen Dingen hinter der Welt ausgeht, an denen die empirische Welt in unterschiedlichem Ausmaß durch kurz aufflackernde Abbildungen und Manifestationen partizipiert. Dann wären unsere Gleichungen ein symbolischer Ausdruck von abstrakten Strukturen hinter der empirischen Wirklichkeit, über die wir außer ihren formalen Eigenschaften praktisch nichts wissen, weil diese mathematische Welt unserer Anschauung entzogen ist, außer dass diese irgenwie die empirische Welt mit generieren, eventuell gar nur als Nebeneffekt. Die evolutionäre Erkenntnistheorie würde erklären, warum uns die Anschauung für diese Welt dahinter fehlt – sie kann aber nicht erklären, warum die uns zugängliche Welt sich offensichtlich strikt an Gesetzmäßigkeiten hält, die aus einer sehr unanschaulichen, der Messung nicht zugänglichen, rein mathematischen und irgendwie auch doch von tiefer Schönheit durchzogenen Welt folgen. Die Beschäftigung mit der unverhältnismäßigen Effizienz der Mathematik in der theoretischen Physik hat uns also letztlich zu einer metaphysischen Frage geführt, nämlich zu der, was wirklich ist, und wie sich die von uns wahrgenommene und gemessene Welt zu der dahinter existenten Wirklichkeit verhält.

Anhang 1: Zitate zur Philosophie der Mathematik

Eugene Paul Wigner: „Das Wunder der Eignung der Sprache der Mathematik für die Formulierung der Gesetze der Physik ist ein wundervolles Geschenk, das wir weder verstehen, noch verdienen.“

H. Hardy: „Mathematische Strukturen müssen – wie die der Maler und Dichter – schön sein. Die Ideen müssen wie die Farben oder Worte harmonische aufeinander abgestimmt sein. Schönheit ist das erste Kriterium. Für hässliche Mathematik ist auf Dauer kein Platz.“

Werner Heisenberg: „Die Teilchen der heutigen Physik sind Darstellungen von Symmetriegruppen (…) und die gleichen insofern den symmetrischen Körpern der platonischen Lehre.“

Bernulf Kanitscheider: „Symmetrien haben sich in der Teilchenphysik stark in den Vordergrund geschoben als primäre Träger der Ontologie [d. h. von der Wissenschaft des Seins]. Gruppen wie die SU(3)… sind nicht nur Hilfsbegriffe für die Ordnung der Partikelvielfalt… sie sind immanente [innewohnende] Strukturen der Teilchenwelt.“ 

Anhang 2: Acht Positionen in der Philosophie der Mathematik

Was ist der eigentliche Ursprung der Mathematik?

„Es gibt somit keine etablierte Standardphilosophie der Mathematik, an die sich ein interessierter Laie halten könnte. Jeder muss die Argumente der verschiedenen Positionen an sich vorüberziehen lassen, um zu einem eigenen Urteil zu kommen.“ (B. Kanitscheider)

Zwei sehr allgemeine Perspektiven innerhalb der Philosophie der Mathematik sind folgende:

Realistische Auffassungen: Mathematische Objekte sind selbstständige nichtmaterielle ideale Dinge, die wir mit unseren mathematischen Symbolen abbilden, die aber nicht identisch damit sind (Zahlen sind „real“ existent und nicht nur als Abstraktion in unserem Geist).

Nominalistische Auffassungen: Mathematische Objekte sind verallgemeinerte Begriffe unseres Geistes, die auch nur in ihm existent sind. Der Umgang mit mathematischen Symbolen beruht auf Regelsetzungen des Menschen.

Unstrittig ist, dass die Mathematik außerordentlich leistungsfähig ist – strittig ist, ob dieser Erfolg bereits als Beweis ausreicht, dass der Mathematik eine vom Menschen unabhängige Existenz zukommt.

Zwischen den Vertretern der realistischen und nominalistischen Auffassungen gibt es somit einen Streit um die „Beweislast“: Muss der Realist dem Nominalisten beweisen, dass es ideale mathematische Objekt gibt, oder kann er dies aufgrund des Erfolges von Mathematik einfach voraussetzen? Oder muss der Nominalist dem Realisten beweisen, dass die Objekte unseres Geistes nur selbst entworfene Zeichenketten sein können, dass also die Rede von idealen Objekten sinnlos ist?

Beispiele für konkrete Positionen in der Philosophie der Mathematik:

1) Apriorismus (Kant):

Der euklidische Raum ist die „reine Form“ unseres äußeren Anschauungssinns – die Dinge an sich sind nicht räumlich. Erst in unserer Anschauung werden sie dazu gemacht. Dies ist der Grund, warum die euklidische Geometrie als aproiri (d. h. unabhängig von aller Erfahrung) gültig vorausgesetzt werden kann, ja sogar muss und ohne Zweifel immer und überall gültig ist. Die Sätze der euklidischen Geometrie sind „synthetische Sätze apriori“. Der Erfolg dieser Geometrie ist daher nicht verwunderlich, sondern logisch notwendig. (Ähnlich argumentiert Kant für die Arithmetik: Zeit ist „reine Form“ unseres inneren Anschauungssinns – sie ist die Grundlage für das Zählen und somit für alle Arithmetik. Das Ding an sich hingegen ist nicht zeitlich.)

2) Psychologistische Erklärung:

Die Arithmetik beruht auf unserer Fähigkeit zur Wahrnehmung und Unterscheidung von Zeichenketten. Die Wissenschaft von den Zahlen ist diejenige Form von Untersuchung, welchen Operationen mit verschiedenen Anordnungen zu den selben Ergebnissen führen. Zählvorgängen liefern für die Zeichenstruktur „BBBB“ das selbe Ergebnis wie „CCCC“.

3) Evolutionäre Erklärung:

Mathematische Objekte sind das Produkt unserer eigenen Abstraktionsarbeit. Der menschliche Wahrnehmungsapparat hat diese Arbeit im Zuge der Auseinandersetzung mit der Umwelt im Laufe der Jahrtausende entwickelt. Der Grund unserer Abstraktionsfähigkeit liegt in der zum Überleben notwendigen Kooperation zwischen Mitgliedern unserer Art, die durch die Einführung des Zahlenbegriffs optimiert wurde.

4) Formalismus:

Mathematisches Denken ist ein schematisches Operieren mit sinnfreien Zeichen.

5) Phytagoräismus:

Die Substanz der Welt ist nicht Materie, sondern die Zahl. Alles ist realisierte Mathematik in Form ganzzahliger Verhältnisse – von den Tonverhältnissen der Musik bis zu den Planetensphären.

6) Principle of computational Equivalence (PCE) aus der Digitalphilosophie:

Alle physikalischen Dinge entsprechen einem mathematisch möglichen Rechenvorgang. Naturprozesse sind im Grunde Berechnungen.

7) Platonismus:

Es gibt eine geistige Welt der idealen Dinge – diese sind die Urbilder („Ideen“) all dessen, was in dieser Welt als unvollkommenes Abbild realisiert ist. Die Dinge der Welt ahmen diese Urbilder nach. Der Mensch hat vor seiner Geburt diese Welt der Ideen geschaut. Erkenntnis ist ein Sicherinnern an die Urbilder bei der Begegnung mit ihren Abbildern. Dies führt auch zur Geometrie der idealen geometrischen Objekte.

8) Naturalisierter Platonismus („Aristoteles meets Platon“):

Es gibt ideale mathematische Dinge – aber diese existieren nicht jenseits der physikalischen Dinge, sondern in diesen. Mathematik ist das Formungsprinzip von Materie. Mathematik und Physik bilden eine Einheit. 

Interessant scheint mir hierbei unter anderem: Ein mathematischer Platonismus, der auf die Seelenlehre des traditionellen Platonismus verzichtet, aber zugleich im Sinne von 7) eine von Mensch und Materie unabhängigen Existenz mathematischer Objekte postuliert, ist auch heute noch eine ernst zu nehmende Option, auch beim Versuch das in diesem Beitrag dargestellte Phänomen zu erklären. Häufig wird synonym zum mathematischen Platonismus auch vom mathematischen Realismus gesprochen. Unter Mathematikern wurde der mathematische Platonismus (bzw. Realismus)  beispielsweise prominent von Kurt Gödel vertreten. Unter den theoretischen Physikern ist Max Tegmark ein bekannter Vertreter, der diese Idee noch weiter zur Aussage radikalisierte, dass alles, was mathematisch existiert, auch eine physikalische Existenz besitzen müsse. Interessanterweise sind bedeutende Mathematiker der jüngeren Gegenwart platonistischen Konzepten von Mathematik (auch ohne das Konzept der vorgeburtlichen Ideenschau) zugeneigter als reine Philosophen der Mathematik: „Die platonistischen Überzeugungen der Fachwissenschaftler werden [von Seiten der Philosophen] sehr oft mit einem überlegenen logischen Lächeln beiseitegeschoben“ (B. Kanitscheider). 

Literatur

  • Aguierre Anthony et al. (Hg.): Trick or Truth? The Mysterious Connection between Physics and Mathematics, California u. a. 2016.

  • Kanitscheider, Bernulf: Natur und Zahl, Heidelberg 2013.

  • Marcus, Russel / McEvoy Mark: An Historical Introduction to the Philosophy of Mathematics, London u. a. 2016.

  • Peskin, Michael E. / Schroeder, Daniel V.: An Introduction to Quantum Field Theory, 1995. (Hinweis: Dies ist eine mathematische Einführung in die Quantenfeldtheorie und die Eichtheorien und setzt physikalische Kenntnisse voraus.)

  • Vaas, Rüdiger: Vom Gottesteilchen zur Weltformel, Stuttgart 2013.

  • Weinberg, Steven: Der Traum von der Einheit des Universums, München 1993.

  • Wigner, Eugene Paul: The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences, in: Indiana University Press, Bloomington, Indiana, 1967, S. 222-237. Dieser Text ist online zu finden.

Fußnoten

[1] Weinberg: Einheit, S. 163.

[2] Hier wäre anzumerken, dass Raum- und Zeitintervalle in der SRT stets im Zusammenhang mit einer definierten Messvorschrift bestimmt werden müssen, was zu teils kontraintuiven Umrechnungen führt. Eine Folge aus der speziellen Relativitätstheorie ist die Unmöglichkeit der Existenz starrer Körper, sodass hier „aufwendiger“ gemessen werden muss. Uns interessieren hier aber weniger die Probleme der theoretischen Messverfahren, sondern nur, dass die Raum- und Zeitkomponenten für sich nicht invariant sind, sondern nur das hier dargestellte vierdimensionale Wegelement.

[3] Zum Vergleich: Für ein ruhendes Teilchen (mit p=0) wird daraus . Für sehr kleine Geschwindigkeiten ergibt die Taylornäherung  mit dem klassisch-newtonschen Term für die kinetische Energie. Letztere ist nicht lorentzinvariant, da die Geschwindigkeit v in drei Dimensionen nicht lorentzinvariant ist.

[4] Im Unterschied zur nicht relativistischen Schrödinger-Gleichung, die schon daran scheitert, dass sie in eine Differenzialgleichung in erster Ordnung nach der Zeitkoordinate, aber in zweiter Ordnung nach der Raumkoordinate ist.

[5] In Wirklichkeit ist die Wellenfunktion eine komplexe Zahl. Für unsere Betrachtungen ist dies jedoch unerheblich.

[6] Hier genauer: Die klassische Ladungsdichte. Die Wahrscheinlichkeitsdeutung ist bei relativistischen Wellengleichungen im Unterschied zur Schrödinger-Gleichung problematisch –im Klein-Gordon-Fall erhält man statt einer stets positiven Wahrscheinlichkeitsdichte eine Dichtefunktion, die auch negativ sein kann, da sie nicht durch bloßes Quadrieren entsteht. Erst die Dirac-Gleichung liefert dank Bildung des Betragsquadrats eine positiv definite Dichtefunktion. Aber selbst hier ist es erst der Übergang zur quantisierten Feldtheorie, der eine konsistente Betrachtung ermöglicht.

[7] Das bedeutet: Alle Lösungen der Dirac-Gleichung sind auch Lösungen der Klein-Gordon-Gleichung (und zwar jeweils alle vier Komponenten). Aber nicht alle Lösungen der Klein-Gordon-Gleichung sind Lösungen der Dirac-Gleichung. Die Dirac-Gleichung hat strukturreichere Lösungen.

[8] Man beachte, dass diese Theorie von punktförmigen Teilchen ausgeht, auch wenn deren Aufenthaltswahrscheinlichkeit im Raum wellenartig verteilt ist.

[9] \( \hbar \) ist das Plancksche Wirkungsquantum. Halbzahlige bzw. ganzzahlige Spins meint im Folgenden halbzahlige bzw. ganzzahlige Vielfache von \( \hbar \).

[10] Auch auf einer Umlaufbahn um die Sonne dürfen sich ja mehrere Gestirne befinden, wie man etwa am Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter sehen kann.

[11] Hier beispielsweise im Sinne der Ladung des Elektrons.

[12] Zitiert nach Rüdiger Vaas: Vom Gottesteilchen zur Weltformel, Stuttgart 2013, S. 181.

[13] Vgl. Vaas, Gottesteilchen, S. 187.

[14] Ebd., S. 182

[15] Zitiert nach ebd., S. 182.

[16] Bzw. des Positrons, jeweils mit Spin-up oder Spin-down.

[17] Allgemeiner: Die Wellenfunktion ist eine komplexe Zahl, was hier aber nicht im Vordergrund stehen soll.

[18] Da die Wellenfunktion eine komplexe Funktion ist, sind natürlich aller Phasenfaktoren  erlaubt, die per Definition den  Betrag 1 haben, und nicht nur die Vorfaktoren 1 und -1.

[19] Oder sonstwie mit einem komplexen Phasenfaktor um einen beliebigem Drehwinkel in der Riemannschen Zahlenebene dreht.