Die Metaphysik des Averroes neu gelesen: Der Andalusier und die Weltformel
Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in: Muhammad Sameer Murtaza (Hrsg.): Islamische Philosophie (Bd. 5) – Islamopäische Philosophie. Hamburg 2024, S. 151-229. Die Zahlen in [eckigen] Klammern sind Verweise auf die Endnoten am Ende des Textes. Durch Anklicken der folgenden Überschriften lässt sich direkt zu den Kapitel navigieren.
Kapitel
2. Das wissenschaftliche Labor des Ibn Ruschd: Aristoteleskommentare. 6
3. Die aristotelischen Grundlagen der Naturphilosophie des Averroes – ein Crashkurs 12
4. Gott und die Welt bei Averroes. 20
4.1 Liebe, Form und eine Dampfbad-Metapher 20
4.2 Gottes Wissen umfasst die Einzeldinge auf vollkommene Weise. 21
5. Kosmos, Naturgesetze und die Stellung des Menschen nach Ibn Ruschd. 25
5.1 Die Welt ist mit Blick auf intelligentes Leben physikalisch feinabgestimmt 25
5.2 Vollkommenheit heißt nicht, dass alles für den Menschen vollkommen ist 28
5.3 Die naturgesetzliche Geschlossenheit der Welt und die Entstehung von Leben. 31
6. Vereinheitlichung der Formen, oder die Suche des Averroes nach der Weltform(el) 36
6.1 Die Vereinheitlichung der Formen in der Epitome der Metaphysik. 38
6.2 Die Vereinheitlichung der Formen im langen Kommentar zur Metaphysik. 41
7. Fīhi naẓar: Weltform oder Weltformel? Ein metaphysischer Erzkonflikt 46
60
1. Einleitung
„Wer kann alle diese Lehren harmonisieren! Bis jetzt ist dies noch keinem
gelungen.“ [1]
(Max Horten über das philosophische Vermächtnis des Averroes)
Dieser Beitrag schlägt eine Brücke zwischen dem modernen Nachdenken über die Natur und der Philosophie des Andalusiers Abū l-Walīd Muḥammad ibn Aḥmad ibn Muḥammad Ibn Rušd (gest. 1198), alias Averroes. Unser Ausgangspunkt ist dabei die Frage nach der Vereinbarkeit von moderner Naturwissenschaft mit dem Schöpfungsglauben in den abrahamitischen Religionen, speziell im Islam. Zur Unterstreichung der gleichzeitigen Zugehörigkeit des Andalusiers sowohl zur islamischen, als auch zur christlichen und jüdischen Geistesgeschichte werden in diesem Beitrag die Namen Averroes und Ibn Ruschd abwechselnd verwendet [2]. Eine inhaltliche Voraussetzung für die folgenden Darstellungen ist es ferner Averroes vorab schon als den islamischen Philosophen anzuerkennen, als der er sich sah, und der die grundsätzliche Frage nach der Vereinbarkeit der islamischen Religion mit rationaler Wissenschaft bzw. Philosophie in seiner „Entscheidenden Abhandlung“ [3] faṣl al-maqāl) für sich positiv beantwortet und geklärt hat, sodass er sich in anderen Werken ganz den Einzelheiten einer rationalen Erschließung der Welt widmen konnte. Ziel dieses Beitrages ist es entsprechend nicht die Ob-Frage nach Vereinbarkeit bei Ibn Ruschd zu klären, sondern die Wie-Frage durch Vorstellung des Vereinbarkeitsmodells im Sinne des philosophischen Denkens von Ibn Ruschd zu beantworten [4].
Die rationale Welterschließung beinhaltet bei Averroes die Naturwissenschaften im allgemeinen Sinn, sowie ihre philosophische Fundierung, die ihn auf der einen Seite zu Logik und Wissenschaftstheorie und auf der anderen Seite zu Naturphilosophie, Metaphysik und Theologie führt. Hier stellen sich Fragen nach der Stellung des Menschen, nach Naturgesetzen sowie nach ihrem Verhältnis zu Gott. Averroes beantwortet diese Fragen weitgehend im Rahmen der Philosophie des Aristoteles (gest. 322 v. Chr.), jedoch auf Basis einer eigenen Interpretation, unter anderem unter islamisch geprägten Gesichtspunkten. Weniger bekannt sind dabei seine umfangreichen Überlegungen hierzu, die er in den Kommentaren zu Werken des Aristoteles niedergeschrieben hat. Diese haben aber den Vorteil, dass zumindest die langen Kommentare als Spätwerk gelten können, in denen auch seine Überlegungen aus seinen früheren theologischen Werken Eingang gefunden haben, jedoch in gereifterer und der Polemik mit den Kalām-Theologen entledigter Form.
In diesem Beitrag stehen nun zwei Kommentare des Ibn Ruschd zum zwölften Buch der Metaphysik des Aristoteles, auch Buch Lambda genannt, im Zentrum, in dem Aristoteles sein Konzept des immateriellen und unbewegten ersten Bewegers (Gott) einführt. Die dazu betrachteten zwei Kommentare des Ibn Ruschd sind seine zeitlich frühere Epitome der Metaphysik [5], sowie der zeitliche spätere Lange Kommentar zur Metaphysik [6]. Thematische Bezüge zu anderen Werken des Averroes mussten im Beitrag sehr knappgehalten werden. Abschnitt 2 des Beitrages thematisiert einige Besonderheiten der Aristoteleskommentare des Averroes und veranschaulicht diese anhand der Kommentare zur Physik und Metaphysik. Abschnitt 3 geht nochmals einen Schritt zurück und führt in Grundkonzepte der Naturphilosophie des Aristoteles ein, wie sie vor allem in seiner Metaphysik dargestellt sind. Ein solcher Einschub erweist sich als notwendig, wenn man das System des Ibn Ruschd vertiefter behandeln und zudem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Philosophen nachvollziehen möchte.
Der eigentliche inhaltliche Teil beginnt in Abschnitt 4 mit zwei Themen aus den Metaphysik-Kommentaren des Ibn Ruschd, die das allgemeine Verhältnis zwischen Gott und der Welt betreffen. Diese sind die Erschließung Gottes als Formursache der Welt neben seiner von Aristoteles verbrieften Position als erster Beweger, sowie die Thematisierung des Wissens Gottes, und inwiefern dieses auch das Wissen um Einzeldinge in der Welt einschließt. Beide Punkte betreffen wichtige Fragen nach der Einheit der Welt, in denen Ibn Ruschd über Aristoteles hinausgehen musste. In Abschnitt 5 werden drei physikalische und kosmologische Themen vorgestellt, nämlich die Idee des auf die Existenz des Menschen hin feinabgestimmten Kosmos, sowie die trotzdem nicht auf den Menschen allein bezogene Teleologie der Natur, und schließlich das wichtige Modell einer Natur, die von Gott geformt ist, und gerade dadurch weitgehend ohne supranaturale Eingriffe, also alleine über allgemeine Naturgesetze gesteuert wird, einschließlich von Prozessen der Entstehung von Leben aus unbelebter Materie. Abschnitt 6 bündelt die bisherige Diskussion und widmet sich ausführlich der Suche des Averroes nach einer ersten Form bzw. Ur-Form als formalem Anfang aller Natur. Da diese Suche einige Parallelen zur Forschung der gegenwärtigen Grundlagenphysik nach einer vereinheitlichten Feldtheorie hat, die oft vereinfacht als Weltformel bezeichnet wird, wollen wir die Ur-Form bei Averroes analog dazu auch als Weltform bezeichnen. In Abschnitt 7 werden die Ergebnisse aus Abschnitt 6 zur Weltform bei Ibn Ruschd zusammengefasst und mit den heutigen Kriterien für eine Weltformel verglichen. Unter Aufgriff von Thesen aus dem aktuellen Diskurs über eine Philosophie bzw. Theologie der Natur, unter anderem von Bernulf Kanitscheider und Hans-Jürgen Mutschler, werden schließlich Überlegungen dazu aufgestellt, wie man die Metaphysik des Ibn Ruschd neu lesen müsste, um sie mit den heutigen naturphilosophischen Positionen zur Frage nach Naturgesetzen im Allgemeinen und nach einer Weltformel im Speziellen besser vergleichen zu können. Dies wird zur Überlegung führen, dass die Einführung abstrakter mathematischer Formen bzw. Strukturen als zentrale Bestandteile
einer aktualisierten averroesischen Naturphilosophie eine natürliche und angemessene Fortschreibung der Philosophie des Andalusiers sein könnte. Abschnitt 8 wiederum schließt mit acht Thesen, die die Grundaussagen dieses Beitrages bündeln.
Ziel des Textes ist es einen kleinen Beitrag zum Verständnis und auch zur Aktualisierung der Naturphilosophie des Averroes, wie sie sich insbesondere in seinen Metaphysikkommentaren zeigt, zu leisten und zu zeigen: Wir haben es hier mit einem großen islamischen Denker zu tun, der trotz seiner erklärten Treue zu Aristoteles weit über seine Zeit hinausdachte und uns auch heute noch Impulse für die religiöse Aufarbeitung der rationalen Welterklärung und dabei vor allem der Naturwissenschaft geben kann.
2. Das wissenschaftliche Labor des Ibn Ruschd: Aristoteleskommentare
Um den Ansatz dieses Beitrages verständlicher zu machen, soll in diesem Abschnitt die Textgattung der averroesischen Aristoteleskommentare näher beleuchtet werden. Dazu werden wir uns die Methode des Averroes anschauen, sowie die Komplikationen, die sich ergeben können, wenn man sich heute mit seinen Kommentaren auseinandersetzen möchte. Diese Kommentare stellen innerhalb des thematisch breitgefächerten Opus des Andalusiers die umfangreichste Textgattung dar. Von diesen gibt es drei wichtige Klassen. Die erste besteht aus den langen Kommentaren (tafsīr oder šarḥ), in denen Originalpassagen aus einem Werk des Aristoteles in einer arabischen Übersetzung in kleinen Abschnitten präsentiert, ausführlich kommentiert und dabei oft um weiterführende Vertiefungen ergänzt werden. Die zweite Gruppe sind die mittleren Kommentare, die auch als Paraphrasen bezeichnet werden (talḫīṣ), und in denen das jeweilige Werk des Aristoteles in eigenen Worten ohne weitere Diskussion zusammengefasst ist. Die dritte Gruppe von Kommentaren, die auch als kleine Kommentare oder Epitomen (Singular: Epitome) bezeichnet werden (ǧawāmīʿ oder muḫtasar), stellen kurze Zusammenfassungen der jeweiligen Werke dar, die im Unterschied zu den langen und mittleren Kommentaren die Kernthesen des Werkes auf freie Weise und nach eigener neuer Strukturierung und Schwerpunktsetzung wiedergeben [7].
Zu fast allen Werken des Aristoteles schrieb Averroes einen kleinen und einen mittleren Kommentar. Zu fünf von ihnen verfasste er zudem lange Kommentare, nämlich zur zweiten Analytik (Lehre vom wissenschaftlichen Beweis), zur Physik-Vorlesung, zu De Anima („Über die Seele“) [8], zu De Caelo („Über den Himmel“) sowie schließlich zur Metaphysik, um die es in diesem Beitrag gehen wird [9]. Es sind also naturwissenschaftliche und metaphysische Fragen, denen er sich ausführlicher widmete. Diese Kommentare des Ibn Ruschd beeinflussten im christlichen Raum maßgeblich zahlreiche Diskussionen von der Scholastik bis ins 17. Jahrhundert hinein. Auch in der jüdischen Philosophie wurde Ibn Ruschd intensiv rezipiert [10]. Sein Einfluss im islamischen Kontext wiederum war ebenfalls größer als oft wahrgenommen [11].
Im Kontrast zu dieser historischen Relevanz finden heute die theologischen Werke des Averroes wesentlich mehr Beachtung als seine epochalen Aristoteleskommentare. Ein erster Grund hierfür sind pauschale Vorbehalte. So gilt die aristotelische Naturphilosophie beispielsweise in Form des geozentrischen Weltbildes zu wichtigen Teilen zurecht als überholt. Dies führt zur Frage: Warum sollte man sich da noch mit Kommentaren dazu befassen? Dieser Vorbehalt verkennt die Tatsache, dass man in allen philosophischen und theologischen Systemen zeitlose Grundideen von wissenschaftlich überholten Anteilen abstrahieren kann. Diese Grundideen sind es, die historische Denkschulen auch heute noch interessant machen, wofür die rege Rezeption gerade der Vorsokratiker durch zeitgenössische philosophierende Naturwissenschaftler ein Beispiel ist [12]. Ein weiterer Grund für die distanzierte Haltung zu den Kommentaren des Averroes speziell im islamischen Kontext ist, dass griechische Philosophie vielen Stimmen der islamischen Gelehrsamkeit bis heute als fremd gilt, sodass man ihr Konzepte entgegenhalten möchte, die sich enger an den islamischen Primärquellen orientieren, statt den als systemfremd empfundenen alten Griechen zu viel Raum zu geben. Gegen diesen Vorbehalt lässt sich einwenden, dass man jede Philosophie differenziert aufarbeiten kann, und dass sich fast alle intellektuellen Traditionen im Islam immer schon von Philosophien und Theologien, die ihre Wurzeln außerhalb der islamischen Kultur haben, inspirieren und teils auch belehren ließen. Gerade die aristotelisch beeinflussten Traditionen im Islam erweisen sich dabei oft als Versuch naturwissenschaftliches und logisches Argumentieren mit dem islamischen Glauben zu vereinbaren – ein Ansatz, der in der islamischen Theologie vor allem nach al-Ġazālī (gest. 1111) sehr einflussreich werden sollte und dessen Grundfragen auch heute noch relevant sind [13]. Man wird den philosophischen Traditionen daher gerechter, wenn man sie differenziert als Stimmen im vielfältigen Chor der islamischen Denker auffasst und versucht ihre Gedankengänge im eigenen Kontext nachzuvollziehen – kritisieren oder ablehnen kann man sie nach einer Prüfung immer noch.
Es gibt ferner Schwierigkeiten mit den Kommentaren, die in den Texten selbst liegen. So ist ein sehr großer Teil der Aristoteleskommentare des Averroes heute nur als Übersetzung ins Lateinische oder ins Hebräische vollständig erhalten, was eine deutliche Zugangshürde zu diesen Texten darstellt, wenn man ansonsten im Kontext des Islams nur mit klassischen Islamsprachen wie Arabisch, Persisch oder Osmanisch arbeitet. Selbst von den genannten fünf langen Kommentaren ist nur der zur Metaphysik vollständig auch auf Arabisch erhalten [14]. Hinzu kommt, dass Ibn Ruschd im Zuge seiner Auseinandersetzung mit einem Werk im Laufe der Jahre viele seiner Sichtweisen weiterentwickelt hat, sodass sich manchmal in den späteren langen Kommentaren veränderte Perspektiven finden als in seinen früheren mittleren und kurzen Kommentaren. Zusammenhänge dieser Art erschließen sich nur mühsam, eröffnen zugleich aber neue Einsichten. David Wirmer hat solche Entwicklungen in den drei Kommentaren zur Seelenlehre in De Anima untersucht und dargestellt [15]. Ruth Glasner wiederum hat in den drei averroesischen Kommentaren zur Physikvorlesung des Aristoteles noch eine weitere erstaunliche Struktur offengelegt: Es liegen von den hebräischen und lateinischen Übersetzungen der drei Physik-Kommentare zu einigen wichtigen physikalischen Fragestellungen je zwei Varianten vor [16]. Aus einer historisch-kritischen Analyse dieser Varianten hat Glasner abgeleitet, dass Averroes nach einer viele Jahre währenden Auseinandersetzung mit der Physik-Vorlesung des Aristoteles und mit den zugehörigen Kontroversen der Aristoteles-Kommentatoren vor seiner Zeit in drei Fragen der Physik Richtungsänderungen vornahm. Aus diesen ging er, was man für einen traditionellen Aristoteliker eher nicht erwartet, als Atomist im Sinne einer Minima Naturalia-Theorie [17] und als Vertreter der Lehre einer Forma Fluens hervor, die Veränderungen durch die zuvor als starr angenommenen Wände der Gattungen hindurch annimmt [18]. Beides bedeutete einen Relativierung der für Aristoteles eher typischen Idee kontinuierlich zusammenhängender Körper und stand zugleich in einem positiven Verhältnis zu einer dritten These, nämlich zu einem Indeterminismus in der Natur, den Averroes nun vertrat. Allein diese Dynamik zeigt, wie komplex das averroesische Werk ist.
Betrachten wir das Physik-Beispiel noch etwas genauer: Seine neuen Positionen entwickelte Ibn Ruschd innerhalb der aristotelischen Rahmenphilosophie. Dabei ging er aber über die konkreten Lehren des Aristoteles und der meisten Aristoteleskommentatoren hinaus. Dies ist möglich, da für Autoren wie Averroes der Name Aristoteles das naturwissenschaftliche Paradigma schlechthin war. Entsprechend haben Fortschritte im naturwissenschaftlichen Verständnis bei Averroes äußerlich „nur“ die Form eines neuen Kommentars zu den oft vieldeutigen und nicht immer einheitlichen aristotelischen Texten. Dieses für die moderne Wissenschaft unübliche „Kleben“ an den Werken eines einzigen Autors war schon vielen muslimischen Zeitgenossen der islamischen Peripatetiker suspekt. An der Schwelle zur Neuzeit schließlich wurde es weitgehend durch ein zunehmend experimentell vorgehendes und ergebnisoffenes Wissenschaftsverständnis zurückgedrängt. Zumindest äußerlich ist diese grundsätzliche Treue zu einem System jedoch vergleichbar mit dem modernen Standard, neue und auch sich widersprechende wissenschaftliche Thesen stets im begrifflichen Rahmen anerkannter moderner wissenschaftlichen Theorien formulieren und etablieren zu wollen, etwa im Rahmen der relativistischen Physik, oder der Quantentheorie, wobei trotzdem neue Ergebnisse oder Ideen hervorgebracht werden. Deswegen geben auch Bezeichnungen wie Aristoteles-Kommentar oder Aristoteles-Kommentator die Tiefe und Reichweite des Werkes des Ibn Ruschd nur eingeschränkt wieder. Man vergleiche dazu auch die Feststellung Glasners, dass der dreifache Wendepunkt in der Physik des Ibn Ruschd in den 1180er Jahren begannt und erst 1196 endete [19]. Dieses große Zeitfenster zeigt, dass Averroes sich nicht als willenloser Verkünder von literal verstandenen Meinungen des Aristoteles verstand [20]. Nach Glasner ist ferner davon auszugehen, dass die unter anderem von der Herausforderung des Kalām-Atomismus ausgelöste Zuwendung des Averroes zu einer alternativen Minima Naturalia-Theorie entscheidenden Einfluss auf das Aufkommen atomistischer Ideen in Europa bis ins 16. und 17. Jahrhunderts hinein hatte [21]. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Ibn Ruschd trotz seiner dogmatisch anmutenden Art Wissenschaft zu betreiben noch Jahrhunderte nach seiner Zeit eine intellektuelle Kraft im Hintergrund der Renaissance darstellen konnte. Bezüglich des muslimischen Einflusses auf die Entwicklungen des europäischen Atomismus schreibt Glasner aber auch: „The contribution of Muslim philosophy, however, has not yet been duly acknowledged.“ [22]
In diesem Beitrag werden wir die Physik-Kommentare und die aufgezeigten Entwicklungen des Ibn Ruschd trotz ihrer historischen Bedeutung nicht weiterverfolgen. Vielmehr werden wir uns auf die ohnehin hinreichend komplexen Metaphysik-Kommentare konzentrieren, die ebenfalls viele Bezüge zur Physik aufweisen. Was diese Kommentare betrifft, sind wir trotz des auf Arabisch vorliegenden langen Kommentars zur Metaphysik in einer anderen verzwickten Situation. Denn die kürzere und bekanntere Epitome der Metaphysik [23], die älter ist als der lange Kommentar zur Metaphysik, zeigt in manchen Feinheiten im Vergleich zum langen Kommentar einen auffälligen neuplatonischen Einschlag sowie Besonderheiten, die als schwierig mit dem restlichen Werk des Averroes zu vereinbaren gelten. Dies hat immer wieder Autoren – darunter auch Charles Genequand, einen zeitgenössischen Übersetzer des langen Kommentars, – dazu bewogen die Epitome der Metaphysik als Fälschung zu klassifizieren [24]. Eine solche Sichtweise hat freilich immense Auswirkungen auf die Interpretation des Averroes, wie man an Genequands Darstellung manchmal merkt [25]. In diesem Beitrag besteht nicht die Möglichkeit die Fälschungsthese zu diskutieren. Und da nach wie vor die meisten Ibn Ruschd-Forscher kontextuelle Erklärungsansätze für die offenen Fragen zur Epitome anbieten und dieses Werk als authentisch anerkennen [26], soll die Epitome auch in dieser Arbeit als ein Werk des Ibn Ruschd behandelt werden. Der Schwerpunkt wird dennoch auf dem langen Kommentar liegen, und Bezüge auf die Epitome werden stets als solche genannt. Der mittlere Kommentar zur Metaphysik konnte hier leider nicht berücksichtigt werden. Er lag bis heute nur in Form schwer zugänglicher hebräischer Übersetzungen vor. Die Edition einer neu entdeckten arabischen Fassung durch Maroun Aouad ist angekündigt. Nach diesem ersten vorbereitenden Abschnitt wollen wir nun in einer zweiten Vorbereitung einen Blick auf Grundbegriffe der aristotelischen Naturphilosophie werfen.
3. Die aristotelischen Grundlagen der Naturphilosophie des Averroes – ein Crashkurs
Zu den großen Themen der antiken Philosophie gehört die rationale Erschließung des Werdens und Vergehens der Dinge, sowie der ebenfalls rationale Versuch das viele Vergängliche auf weniges Unvergängliches zurückzuführen. Diese Fundierungsversuche umfassen Fragen der Naturerklärung ebenso wie Fragen nach dem moralisch Richtigen sowie der Glückseligkeit. Rational meint hier: aus ersten Ursachen heraus, die durch Denken ergründbar sind, und die sich nicht so launisch wie die Götter des Homer und Hesiod verhalten, sondern die begrifflich durchdrungen und somit dem logischen Denken weitgehend zugänglich gemacht werden können. In Auseinandersetzung mit den Naturmodellen des Platon und der Vorsokratiker entwickelte nun Aristoteles eine folgenreiche Lehre von der Funktionsweise der Natur, die tief in seine Metaphysik hineinreicht und fast zweitausend Jahre lang die Kulturen des Mittelmeerraumes beeinflusst hat. Im Folgenden wird diese Lehre, auf die später Ibn Ruschd seine Philosophie aufbaut, kurz skizziert. Dabei folgen wir hier im Wesentlichen der Darstellung des Aristoteles in seiner Metaphysik.
a) Bewegung als Innbegriff aller Veränderungen
Ein zentraler Begriff für Aristoteles ist die Bewegung, die bei ihm für jede zeitliche Veränderung eines Zustandes steht. Die räumliche Bewegung ist das naheliegendste Beispiel hierfür, ist aber nur eine von vielen Arten von Bewegung. Beispiele für andere Arten von Bewegungen sind das Verbrennen eines Gegenstandes, das Entstehen eines Lebewesens aus einem Samen, oder das Genesen eines kranken Menschen durch Einwirken der Heilkunst eines Arztes. Nach Aristoteles gilt für all diese Bewegungen, dass sich dabei stets (a) etwas (b) durch Einwirkung von etwas (c) zu etwas hin verändert [27]. Was sich verändert ist eine gegebene Materie [28], die mit einer bestimmten Form [29] vorliegt. Die Einwirkung darauf ist eine Bewegungs- bzw. Wirkursache. Und das Ziel der Veränderung ist eine neue Form an derselben Materie.
b) Materie und Form
Materie hat also stets eine bestimmte Form, die das Wesen des Gegenstandes ausmacht. Form meint also im Regelfall Wesensform (wie etwa Hitze beim Feuer), und nur im Spezialfall die geometrische Form (wie etwa die Kugelform einer Bronzekugel). Form ist hier primär die qualitative Abgrenzung eines Gegenstandes durch ein spezifizierendes Merkmal innerhalb seiner übergeordneten Gattung, also seiner nächst höheren Gegenstandsgruppe. So ist beispielsweise der Mensch ein Lebewesen, das sich durch seine Vernunftbegabung von anderen Lebewesen unterscheidet, oder genauer: „Lebewesen“ ist die nächste höhere Gattung für die Art des Menschen. Und es ist die Wesensform der vernunftbegabten Seele, mit der sich der Mensch von anderen Arten von Lebewesen unterscheidet.
c) Art und Gattung
Die nächst höhere Gattung liefert zugleich die Materie für die ihr zugeordneten Arten. Somit steht Materie als Begriff für die Menge aller Möglichkeiten einer Gattung. Diese Materie nimmt nun eine bestimmte Form an und wird so zu einem Individuum der entsprechenden Art innerhalb der gegebenen Gattung. Diese Art kann wiederum durch Aufnahme differenzierterer Formen Unterarten ausbilden. Für dieser Unterarten ist diese Art nun Gattung und somit nächste Materie. Das bedeutet, dass die Materie komplexer Dinge stets eine vielfache Schichtung aus einfacheren Materien und Formen darstellt. Die elementarsten Materien in unserer Welt des Werdens und Vergehens wiederum sind die vier Elemente des Empedokles [30], die ihrerseits dadurch entstehen, dass das Fundament aller Materie – oft auch „erste Materie“ genannt –, die noch keine Qualität besitzt, einfache Formen wie heiß, kalt, trocken und feucht aufgenommen hat. Die Bewegungen der vergänglichen Materien der Welt um uns stehen wiederum sowohl in kausaler Abhängigkeit voneinander, als auch von den Gestirnen [31], die laut Aristoteles ewig sind und aus einem fünften Element, dem Äther, bestehen, das ebenfalls ewig ist [32].
d) Aktualität, Potenzialität und die Synonymregel bei Verursachungen
Die Materien, die immer im Verbund mit einer von vielen möglichen Formen existieren, verändern ihre Form durch die Einwirkung einer Wirkursache, die zugleich ihren äußeren Beweger darstellt. Das Resultat ist, dass die alte Form der Materie aufgehoben wird und die Materie nun eine neue Form annimmt [33]. Nicht jede Wirkursache kann aber jede beliebige Wirkung hervorrufen. Vielmehr gilt eine Synonymregel, die die Natur ordnet und die besagt: Damit Materie eine bestimmte Form annehmen kann, muss sie von einer wesensgleichen Wirkursache, also von einer Wirkursache, die dieselbe (oder fast dieselbe) Form hat, zu dieser Form geführt werden, oder in den Worten des Aristoteles: „Jedes Wesen wird aus einem Wesensgleichen [ek synōnymu].“ [34] Beispiel: Feuer hat die Form (d. h. den wesensdefinierenden Zustand) der Hitze und kann andere Körper durch Einwirkung ebenfalls in die Form der Hitze überführen. Davor fehlte dem anderen Körper diese Form, womit er kalt, oder zumindest kälter war. Oder wieder mit Aristoteles gesprochen: Die Wärme lag nur als Potenzialität vor [35]. Sie wurde in den Zustand der Aktualität [36] überführt. Dieses Begriffspaar von potenziellen und aktuellen (bzw. aktualen) Zuständen wird beim averroesischen Verständnis von Naturgesetzen eine große Rolle spielen und dabei ein Abgrenzungsmerkmal von okkasionalistischen Kausalitätstheorien darstellen, die wesentlich weniger physikalische Unmöglichkeiten kennen als die Philosophen [37].
e) Komplexe Verursachungen
Es gibt auch komplexere Fälle von Verursachung: Der Mensch zeugt den Menschen, wobei hier aber mehrere Ursachen zusammenwirken müssen. Der Vater ist hierbei die nächste Wirkursache. Es gibt hierbei aber auch eine gleichzeitige Einwirkung der Sonne bzw. der Ekliptik. Diese übernimmt die Rolle eines entfernten Bewegers [38]. Ibn Ruschd wird später diese Einwirkung der Sonne, aber auch anderer Gestirne auf die Erde als ein rein physikalisches Einwirken interpretieren.
f) Formen in der Seele
Wirkursachen sind oft unbelebt. Sie können aber auch beseelte Lebewesen sein, d. h. Pflanzen, Tiere oder vernunftbegabte Wesen, insbesondere in Gestalt des Menschen. Zu einer besonderen Wirkursache werden vernunftbegabte Wesen dann, wenn sie in ihrer Seele einen Plan als Form haben, mit dem sie beispielsweise ein Kunstwerk gemäß dieser Form erzeugen, oder eine Berufskunst ausüben. So liegt die Kunst der Medizin beispielsweise in der Seele des Arztes als Form vor. Sie erzeugt bei Anwendung auf einen kranken Menschen Gesundheit. Die Form in der Seele des Arztes ist dabei in gewisser Weise dieselbe wie die, die als Gesundheit beim Patienten ankommt, womit auch hier die Synonymregel gilt: Die Medizinkunst und die Gesundheit sind dieselbe Form in zwei verschiedenen Existenzweisen. Dazwischen liegen Zwischenursachen, die aber nur als Mittel zum Zweck verwendet werden und daher die Synonymregel vom Kerngehalt her unbeschadet lassen [39]. Bei Ibn Ruschd wird diese Denkfigur später eine Analogie zur Verbindung zwischen den Denkinhalten Gottes und den Formen der Natur darstellen.
g) Die Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles
Das Beispiel der Medizinkunst eröffnet auch innerhalb der rein aristotelischen Philosophie weitere Dimensionen, nämlich die der Vier-Ursachen-Lehre [40]. Dies soll hier am Beispiel der Gesundheit bzw. ihrer Form dargestellt werden. Zum einen tritt die Gesundheits-Form, vermittelt über die Praxis des Arztes, als Wirkursache für die Genesung des Patienten in Erscheinung. Gleichzeitig ist das gewünschte Auftreten von Gesundheit die Zweckursache der Behandlung durch den Arzt. Vom Zustand der Genesung aus betrachtet, hat die erreichte Gesundheit des Patienten ihre ursprüngliche Formursache in der Heilkunst in der Seele des Arztes, ist aber auch selbst Formursache des nunmehr genesenen Patienten.
h) Sublunare und translunare Welt
Der vierte Ursachentyp bei Aristoteles – die Materialursache – ist für die Naturwissenschaft wichtig, spielt aber in der Metaphysik des Aristoteles eine untergeordnete Rolle. Dies hängt damit zusammen, dass die kausalen Ketten der Materie nur durch die Welt des Entstehens und Vergehens verlaufen. Diesen Teil der Natur bezeichnen wir im Folgenden als sublunare Welt, also als Welt unterhalb der Mondsphäre. Im unvergänglichen Teil der Natur, den wir im Folgenden als translunare Welt bezeichnen werden, und die Aristoteles bei der Mondsphäre beginnen lässt und sie über die Planetensphären bis zur Fixsternsphäre führt, gibt es wie erwähnt zwar ein fünftes Element bzw. eine fünfte Seinsart, aus der die als ewig angenommen Planenten und der Fixsternhimmel bestehen. Aber deren Stoff ist keine veränderliche Materie und daher kein Teil der Naturwissenschaft im eigentlichen Sinne.
i) Der erste Beweger und seine bewegende Wirkung als “Geliebtes“
Die translunare Welt spielt eine wichtige Rolle in der Gotteslehre des Aristoteles [41]. Denn laut ihm, benötigt jede Bewegung in der Welt eine Bewegungsursache. Diese Ursache wiederum benötigt für ihre eigene Bewegung eine andere Bewegungsursache. Diese kausale Kette setzt sich nun so fort und führt zur Notwendigkeit einer ersten Bewegung, die gleichmäßig erfolgt, seit Ewigkeit besteht und somit ebenfalls seit Ewigkeit alle Bewegungen in der Welt aufrechterhält. Diese erste Bewegung ist laut Aristoteles die tägliche Umdrehung des Fixsternhimmels. Da die aristotelische Physik kein Trägheitsgesetz kennt, braucht aber auch diese Bewegung eine Ursache. Eine unendliche Kette an Ursachen ist laut Aristoteles aber ausgeschlossen. Daraus folgert er, dass es einen ersten unbewegten Beweger geben muss, den er im Buch zwölf der Metaphysik, das auch als Buch Lambda bezeichnet wird, mit Gott (θεός/theos) identifiziert. Es bleibt im Rahmen der Ursachenlehre von Aristoteles nun die Frage, wie die erste Ursache den Fixsternhimmel ewig bewegen kann, ohne selbst aufgrund fehlenden Bewegers zum Erliegen zu kommen. Aristoteles löst dieses Problem, indem er auf seine Seelenlehre zurückgreift. Demnach ist zunächst anzunehmen, dass Gott absolut immateriell, d. h. vollständig aktual und vollkommen ist. Das Fehlen jeglicher Materie in Gott bedeutet, dass es keine Bewegungen innerhalb Gottes zwischen mehreren Formen gibt, womit Gott unveränderlich und unabhängig von Bewegern wird. Um aber nun permanent die Welt zu bewegen, ohne selbst bewegt zu werden, muss er etwas Intelligibles sein, das heißt etwas, das durch reines Denken erkannt wird. Oder er muss etwas sein, das begehrt wird. Da im Reich der Vernunft nur das Schöne begehrt wird, fallen hier das Intelligible und das Begehrte zusammen. Wenn man nun mit Aristoteles annimmt, dass auch der Fixsternhimmel eine Seele mit Vernunft besitzt (im Folgenden bezeichnet als himmlischer Intellekt), dann wird Gott für diesen himmlischen Intellekt zum Gegenstand seines Denkens und damit aufgrund der abstrakten Schönheit Gottes auch zum Gegenstand des (rein intellektuellen) Begehrens der Seele des Fixsternhimmels, da die Vernunft das Schöne begehrt, um sich selbst begrifflich zu vervollkommnen. Dieses seelisch-rationale Begehren ist es, das den Himmel in Bewegung hält, oder wie Aristoteles schreibt:
„Jenes [göttliche Prinzip] bewegt wie ein Geliebtes [erōmenon], und durch das (von ihm) Bewegte bewegt es das Übrige.“ [42]
Aristoteles lässt keinen Zweifel daran, dass der erste Beweger vollkommenes Bewusstsein und Glückseligkeit besitzt:
„Sein Leben aber ist das beste, und wie es bei uns nur kurze Zeit stattfindet, da beständige Dauer uns unmöglich ist, so ist es bei ihm immerwährend. Denn seine Wirklichkeit (…) ist zugleich Lust [hedonē].“ [43]
j) Die anderen unbewegten Beweger bzw. die himmlischen Intellekte
Nachdem Aristoteles so aus der Bewegung die Vorlage für einen monotheistisch anmutenden Gottesbeweis liefert, verwirrt er jedoch seine Kommentatoren bis in die Moderne [44] durch die These, dass auch alle Planentenbahnen unter der Fixsternsphäre aufgrund ihrer mutmaßlich ewigen Bewegungen entlang der Ekliptik zusätzlich zu ihrem täglichen Umlauf auch einen je eigenen unbewegten Beweger erfordern würden [45]. Da die Planetenbahnen zudem zahlreiche Abweichungen von der perfekten Kreisbahn zeigen, und da sich diese als Überlagerung von mehreren verschiedenen ewigen Kreisbewegungen vorstellen lassen, führt Aristoteles nun auch für jede Teilbewegung einen eigenen unbewegten Beweger ein und kommt so auf 47 oder 55 unbewegte Beweger, die aber dem ersten Beweger nachgeordnet sind. Die islamischen Philosophen einschließlich Averroes werden später deren Zahl etwas reduzieren und diese weiteren Beweger als himmlische Intellekte neben Gott, dem höchsten himmlischen Intellekt, ausweisen, die nicht nur Gott als erstem Beweger hierarchisch untergeordnet sind, sondern auch in ihrer Existenz kausal von diesem abhängen und mit dem Engelskonzept des Islam in Verbindung gebracht werden.
k) Die noch nicht vollkommene Vereinheitlichung der Natur und Averroes
Dennoch hat auch Aristoteles letztlich trotz seiner eigenen Häufung der unbewegten Beweger die Bewegungen der materiellen Dinge auf ein einziges immaterielles Prinzip zurückgeführt, das aufgrund seiner Vollkommenheit die Zweckursache, also das Erstrebte für die Himmelssphären darunter und damit indirekt für die gesamte Welt darstellt. Nach einer Auflistung von Kritikpunkten an den anderen Philosophen und deren unübersichtlicher Vielzahl an ersten Prinzipien und ewigen Ideen endet das Buch Lambda geradezu triumphalisch:
„Nimmer ist gut eine Vielherrschaft; nur Einer sei Herrscher!“ [46]
Doch aus der Sicht des Ibn Ruschd ist die Vereinheitlichung der gesamten kosmischen Ordnung mit Gott als erstem unbewegten Beweger an der Spitze durch den Wortlaut der Metaphysik allein noch nicht vollständig dargelegt. Denn obwohl Aristoteles in seiner Physik-Vorlesung schreibt, dass die Wirk-, Ziel-, und Formursache bei vielen Dingen „in eins zusammen“ [47] gehen, also identisch sind, hat er eine Identifikation von Gott als Formursache der gesamten Welt nicht vorgenommen und somit auch keinen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den Formen in der Natur und dem Inhalt des göttlichen Intellekts hergestellt: Sublunare und translunare Welt existieren nebeneinander, die eine zwar über der anderen, aber jede letztlich für sich. Dafür ist der Nachweis, dass Gott eine umfassende und vereinende Formursache der gesamten Welt darstellt, eine der zentralen Zielsetzungen der Metaphysik des Ibn Ruschd, der damit den ersten Beweger auch zur ersten Form und somit zur Quelle aller Formen erweitert und ihn somit in die Nähe der koranischen Lehre eines kreativen Schöpfergottes bringt [48]. Diese Erweiterung ist das Thema der nächsten Abschnitte.
4. Gott und die Welt bei Averroes
4.1 Liebe, Form und eine Dampfbad-Metapher
Ehe wir die abstraktere Naturphilosophie des Averroes skizzieren, soll nochmals deutlich gemacht werden, dass der Andalusier ebenso wenig wie Aristoteles eine materialistische Lesart des Kosmos zum Ziel hatte, auch wenn Ibn Ruschd sich in seinen philosophischen Schriften zurückhält in allzu anschaulichen Worten von Gott und der immateriellen Welt der Intellekte zu sprechen. Eine interessante Ausnahme hierzu bilden seine Metaphern, die das Verhältnis zwischen Gott, den himmlischen Intellekten und der Welt beschreiben. Besonders schön ist sein Versuch die Identität von erster Wirk-, Ziel- und Formursache in Gott durch die Metapher eines Dampfbadbesuches zu umschreiben.[49] Ausgangspunkt ist die schon bekannte Feststellung, dass Gott Zweckursache der Himmelsbewegungen ist, da er das ist, was von den himmlischen Intellekten, die zugleich Seelen der Planeten sind, auf eine nicht sinnliche Weise begehrt wird. Gleichzeitig wird er dadurch auch zur Wirkursache der Bewegungen der Gestirne, da sie durch die intellektuelle Vorstellung Gottes bewegt werden. Dies vergleicht Ibn Ruschd mit dem Besuch eines Dampfbades (ḥammām [50]): Das Ziel bzw. die Zweckursache unserer Bewegung, wenn wir uns darauf machen ein Dampfbad zu besuchen, ist das reale Dampfbad. Die Wirkursache unserer Bewegung in Richtung Dampfbad wiederum ist die spontan aufkommende Vorstellung des Dampfbades in unserer Seele. In beiden Ursachenformen steckt die Form des Dampfbades, also einmal im Gegenstand der Außenwelt und einmal als Vorstellung in der Seele. Wenn das Dampfbad nun immateriell wäre und als intelligible Form nur einmal existierte, dann wäre ein und dieselbe Form sowohl Wirkursache als auch Zweckursache für uns. Die doppelte Existenz der Form verschwindet auf diese Weise im Verhältnis der himmlischen Intellekte zu Gott: Wenn ein himmlischer Intellekt Gott denkt, dann begehrt er die Vollkommenheit Gottes, was sich in der ewigen Kreisbewegung zeigt [51]: Die immaterielle Form [52] wird zur Wirkursache seiner Bewegung. Das Ziel dieser Bewegung wiederum ist Gott selbst bzw. seine als solche wahrgenommene Form, die kein materielles Substrat besitzt. Da Gott also nicht in der Materie ist, hat die erkannte Form keine doppelte Existenz: Gott erscheint vereint als Form-, Zweck- und Wirkursache in einem. Dies wird dadurch ermöglicht, dass Gott für die himmlischen Intellekte intelligibel zugänglich ist, wenn auch nicht in absoluter Vollkommenheit, d. h. Einheitlichkeit. Erst auf den unteren Stufen des Verstandes fallen die unvollkommenen Abbilder der Formen der Weltdinge in unserer Seele, und ihre von den Intellekten gedachten Formen so weit auseinander, dass die ursprüngliche Einheit ganz zerfallen ist: Seele und Ding sind gespalten durch die Materie, aber die intellektuelle Sehnsucht nach Erkenntnis der Weltdinge mit Blick auf ihren Erzeuger erinnert weiterhin an die gemeinsamen Formursache von allem.
4.2 Gottes Wissen umfasst die einzelnen Dinge auf vollkommene Weise
Aristoteles schreibt mit Blick auf die absolute Vollkommenheit Gottes, dass es für diese „besser ist, manches nicht zu sehen, als es zu sehen“ [53]. Insbesondere würde ein Erkennen der unvollkommenen und teils schlechten Dinge in der Welt unter ihm bedeuten, dass das Unvollkommene eine Veränderung (und zugleich eine Vervollständigung) des göttlichen Wissens bewirke, was unmöglich sei. Daraus leiteten manche Aristoteliker die Position ab, dass Gott nicht die Einzeldinge, also die Partikularia, sondern nur deren Universalia, also deren verallgemeinerte Begriffe (z. B. „der Mensch“) kennen würde. Averroes widerspricht nicht zum ersten Mal, sondern nun auch in seinem Aristoteleskommentar diesem Verständnis, hier durch Hinweis auf den Koranvers: „Und Er weiß über jede Schöpfung Bescheid (wa-huwa bi-kulli ḫalqin ʿalīm)“ [54]. Für den Aristoteliker Ibn Ruschd stellt sich damit zugleich das Problem, wie sich die rational begründenden Aussagen des Aristoteles dazu mit dem im Koran geoffenbarten Verständnis vereinbaren lassen. Sein Vorschlag beginnt mit einer Umkehr der intuitiven kausalen Ordnung von (göttlichem) Wissen und Gewusstem:
„Sein Wissen ist die Ursache des Seins. Und das Sein ist die Ursache unseres Wissens.“ [55]
Insofern sind auch alle Einzeldinge in seinem vollkommenen Wissen, das alles verursacht, bereits irgendwie mitgedacht, während wir die Dinge erst einzeln nacheinander erkennen müssen. Laut Averroes besteht Gottes Wissen dabei nicht aus Universalia im üblichen Sinn, also aus allgemeinen Begriffen wie „der Mensch“, die noch keine expliziten, sondern nur potenzielle Informationen über einzelne Individuen beinhalten. Gott ist aber vollkommen realisiertes Sein, frei von jeder Potenzialität, weiß aber zugleich (laut Koran) über „jede Schöpfung Bescheid“. Also ist Gottes Wissen ein Wissen von grundsätzlich anderer Art als unseres: Es umfasst aktual alles einzeln Existierende, bleibt dabei aber erhaben über dessen Unvollkommenheiten wie beispielsweise ihre zeitliche Unbeständigkeit [56]. Anders gesprochen: Nach Ibn Ruschd bezieht sich Gottes Wissen weder nur auf die Partikularia, noch nur auf die Universalia, sondern auf eine Art von Verbindung von beidem. Offensichtlich umfasst es die Einzeldinge, ohne sie aber als Summe isolierter Einzeldinge in Raum und Zeit zu betrachten und dabei bei deren Erkenntnis auch deren Unvollkommenheiten in sein göttliches Wesen aufzunehmen.
Womit könnte man dieses Konzept vergleichen? Vielleicht hiermit: Die Idee einer in Gottes Wissen vollkommenen und engen Verbindung von Universalia und Partikularia hat Ähnlichkeiten zu Funktionsgleichungen wie in der Mathematik, die als äquivalente und dank ihrer Einfachheit und Eleganz als (im Sinne Ibn Ruschds) „vollkommene“ Definition einer unendlichen Menge an definierten Punkten bzw. Koordinatenpaaren wie aufgefasst werden können. So wird in gewisser Weise eine unendliche Menge von (hier: mathematischen) Individua definiert und zugleich als geordnete Einheit in einem einzigen Gesetz zusammenfasst. Das Gegenteil davon wären zufällig gestreute Koordinatenpaare, die nicht durch einen Funktionsterm verbunden sind. Wenn diese Analogie angemessen ist, dann wäre Schöpfung im metaphysischen Sinne stets als zusammenhängendes Ensemble in der Raum-Zeit zu betrachten, das über (mathematische?) Zusammenhänge eine Äquivalenz von sehr vielen Einzeldingen und wenigen vereinenden Prinzipien beinhaltet. Eine solche Sicht der Äquivalenz von vielen Einzelnem und wenig Fundamentalem wirft auch ein anderes Bild auf in anderen Werken entfaltete und bizarr anmutende Lehren des Ibn Ruschd, wie etwa die der Einheit des materiellen Intellekts, laut dem alle Menschen über einen Teil ihrer Seele mit einem universellen Intellekt verbunden sind, und als Kollektiv über alle Orte und Zeiten durch ihr Denken zu dessen ständiger Aktualität beitragen. Dies gilt auch für seine ebenso bizarr anmutende Aussage, dass die Menschheit deswegen in einem bestimmten Sinne seit Ewigkeiten existieren muss [57]. Einheit und Vielheit bzw. potenzielle Unendlichkeit würden so nämlich nicht zufällig, sondern durch ein ordnendes und die Individuen weitgehend bestimmendes Prinzip zusammenhängen.
Und auch wenn Averroes dies nie so im Sinn hatte: Aspekte seiner radikalen Ausdeutung der aristotelischen Seelenlehre können heute, wo viele naturwissenschaftliche kosmologische Modelle von unzählbar vielen Paralleluniversen ausgehen, die in manchen Modellen sogar ewig anfangslos sein könnten, in ganz neuem Kontext relevant werden. Und sie können religiös-philosophische Perspektiven auf Weltmodelle möglich machen, die die islamische Tradition in dieser Form kaum kennt. Denkbar wäre in diesem Rahmen beispielsweise ein Multiversum, in dem alle Wesen mit Verstand aus allen dies ermöglichenden Universen eine gemeinsame Verbindung zu einem universellen Intellekt in Form gemeinsam erreichbarer Grundwahrheiten von beispielsweise mathematischer und logischer Art haben. Ein solcher universeller Intellekt könnte heute beispielsweise als geistige Gegenstandswelt im Sinne eines mathematischen Platonismus verstanden werden, zumal schon Averroes die reinen Intellekte mit ihren betont abstrakten Denkinhalten identifiziert hatte (vgl. Abschnitt 7).
5. Kosmos, Naturgesetze und die Stellung des Menschen nach Ibn Ruschd
5.1 Gottes Wissen umfasst die einzelnen Dinge auf vollkommene Weise
Averroes ist oft so verstanden worden, dass sich Gott und die himmlischen Intellekte nicht für die Welt darunter interessieren würden, ja sogar dahingehend, dass die alles aufbauenden vier Elemente der sublunaren Welt nur „Abfall“ (Max Horten) der perfekten Sphärendrehungen, also nicht intendiert seien [58]. Laut Averroes verfolgt Gott wie schon erwähnt durchaus keine voneinander isolierten Zwecke in der sublunaren Welt, da sich sonst das Vollkommene durch das Unvollkommene bewegen ließe bzw. da sonst das Vollkommene einen unvollkommenen Zweck hätte. Aber als Teile des vollkommenen Gesamtsystems spielt die Welt hier unten doch eine Rolle auch für die translunare Welt [59]. Dies verdeutlicht Ibn Ruschd in sehr klaren Worten in Form eines Gottesbeweises, der oft als Vorläufer des zeitgenössischen Design-Arguments für die Existenz Gottes auf Basis physikalischer Feinabstimmungen im Kosmos verstanden wird. So listet Ibn Ruschd am Ende der Epitome eine Reihe von Feinabstimmungen im Sonnensystem auf, das für ihn praktisch der ganze Kosmos war, und mit denen er demonstrieren möchte, dass alles Leben auf der Erde von der Vorsehung (ʿināya) Gottes abhängt: Die genaue lebensfreundliche Größe der Sonne und ihre Distanz zur Erde, mit der es weder zu kalt, noch zu warm für Leben wird [60]; die Neigung zwischen Äquator und Sonnenbahn, die die Jahreszeiten ermöglicht, von denen das Leben der Pflanzen und Tiere abhängt; der rasche Tag- und Nachtwechsel, der für den Temperaturausgleich auf der ganzen Erde sorgt, während die reine Sonnenbahn auf der Ekliptik zu langsam hierfür wäre [61]. Daraus folgt laut Averroes, dass wir
„(…) mit Entschiedenheit und Sicherheit behaupten [können], dass diese Vorgänge im Weltall auf der göttlichen Vorsehung (ʿināya) beruhen, die sich auf die irdischen Dinge erstreckt.“ [62]
In der heutigen Zeit, in der wir nicht wie Averroes von einem, sondern von mindestens hundert Milliarden mal hundert Milliarden Sonnensystemen alleine schon im sichtbaren Universum rechnen müssen, relativiert sich dieses Argument der lokalen Feinabstimmung natürlich erheblich. Allerdings hat die moderne Physik zeitgleich zum kosmischen Bedeutungsverlust unseres Sonnensystems erdrückende Hinweise auf eine andere Art von Feinabstimmungen angehäuft, die nun die Grundfeste des gesamten Universums betreffen und zur Erklärung unseres Universums, das offensichtlich komplexes Leben ermöglicht, wesentlich präzisere Feinabstimmungen erfordert, als beispielsweise hinsichtlich des Abstandes zwischen Sonne und Erde. Insofern sind die Beispiele des Ibn Ruschd als Gottesbeweise heute überholt – aber das grundsätzliche Phänomen einer lebensfreundlichen Natur ist durch die kosmologische Hintertür zurückgekehrt und ist heute Gegenstand tiefgreifender Debatten in Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie [63].
Ibn Ruschd hat im langen Kommentar seine astronomische Argumentation für die göttliche Vorsehung noch in eine andere Richtung erweitert, die zeigt, wie zentral für ihn die rationale Struktur der gesamten Natur war. Averroes erinnert daran, dass laut Aristoteles ein Mensch von einem Menschen gezeugt wird (Synonymregel), aber dass es zusätzlich der Sonne bedarf, um durch eine spezielle Form von Wärme den Samen zur eigentlichen Entfaltung anzuregen. Dann verallgemeinert er diese Idee unter Einbezug aller Gestirne sowie ihrer physikalischen Verhältnisse untereinander:
„Hinsichtlich der Wärmesorten, die aus der Wärme der Gestirne erzeugt werden und die jede voneinander verschiedene Spezies von Tieren herstellen und die potenziell [im Zusammenspiel mit den Samen] die Spezies des jeweiligen Tieres sind, gilt: Die Kraft, die in jedem dieser Wärmesorten vorhanden ist, hängt von der Menge an Bewegungen der Gestirne und ihrer gegenseitigen Nähe oder Distanz ab. Diese Bestimmung [bzw. Kraft] entspringt der göttlichen Vernunfttätigkeit, die der einen Form des einen leitenden Handwerks ähnelt, dem verschiedene Handwerke untergeordnet sind. Darum muss man verstehen, dass die Natur, wenn sie etwas hochgradig Organisiertes hervorbringt, ohne selbst intelligent zu sein, von aktiven Kräften inspiriert ist, die vornehmer als sie selbst sind, und die Intellekt genannt werden.“ [64]
Diese Inspiration durch den Intellekt besteht im Regelfall jedoch nicht in einer externen Zuführung von Seelen in die Lebewesen, oder in wunderartigen Eingriffen, wie man im ersten Moment erwarten könnte, sondern in einer vernunftgemäßen Programmierung der natürlichen Verhältnisse im Sinne eines „mechanischen Systems“ [65] (Genequand), mit dem die vollkommenen Formen im göttlichen Intellekt physikalisch nach unten hin übersetzt werden und hier so nicht nur die einfachen Elemente, sondern auch alle komplexeren Dinge in die erste Materie und ihre höheren Erscheinungsformen eingeprägt werden.
Und selbst wenn die von Averroes vermuteten physikalischen Mechanismen auch hier überholt sind: Ihm gelingt es ein Integrationsmodell zu formulieren, dass die Zentralität eines göttlichen Planes für das Sein mit der Nutzung rein physikalischer Wechselwirkungen verbindet, die ebenso zum göttlichen Plan gehören wie die Gesamtheit der Produkte hier unten. Die vermittelnden Gestirne erhalten damit wieder eine seltsame Doppelrolle: Einerseits erkennen sie die abstrakte göttliche Schönheit über sich und imitieren diese in Form einer ewigen Kreisbewegung ohne sich isolierte Zwecke in der Welt darunter zu setzen [66]. Gleichzeitig „begreifen sie, dass ihre Bewegung die Ursache dafür ist“ [67] (so Ibn Ruschd), dass die von ihnen gedachten Formen ohne Unterbrechung der natürlichen Ordnung aufgrund der physikalischen Auswirkungen der von ihnen geführten Gestirne in materielle Dinge in der sublunaren Welt übersetzt werden. Die in der Antike noch göttlichen Gestirne werden so zu einer Art von kosmischem 3D-Drucker, der die Formen im Intellekt des Programmierers nicht nur in sich als Software abbildet und über ihre Schönheit meditiert, sondern durch mathematisch und physikalisch geordnete Prozesse auch in die Materie der Welt hier unten einbeschreibt. Das kosmische System ist laut Ibn Ruschd zu so einer großartigen Harmonie und Fruchtbarkeit nur deshalb in der Lage, da alle Gestirne sich ausschließlich dem offensichtlich physikalisch-mathematischen Plan eines einzigen Prinzips – Gott – unterordnen. Averroes zitiert zur Untermauerung dieses mehr abrahamitisch als aristotelisch inspirierten Gedankens einen Koranvers, in dem es mit Blick auf Himmel und Erde heißt [68]:
„Wenn es in ihnen beiden andere Götter als Allah gäbe, gerieten sie (beide) ins Verderben.“ (Koran, Sure 21, Vers 22) [69]
5.2 Vollkommenheit heißt nicht, dass alles für den Menschen vollkommen ist
Im ambivalenten Verhältnis der averroesischen Philosophie zur Frage danach, ob bzw. in welchem Sinne sich Gott und die himmlischen Intellekte Zwecke in der sublunaren Welt setzen, finden sich weitere Pointen, die für den zeitgenössischen naturphilosophischen Diskurs interessant sind. So kommentieren die Physiker John Barrow und Frank Tipler in ihrem monumentalen Werk The Anthropic Cosmological Principle über die naturwissenschaftliche Weltsicht des Ibn Ruschd in Abgrenzung von rein anthropozentrischen Sichtweisen:
„He still maintains a teleological view but it is only partially anthropocentric, for he feels it is unreasonable to say that all nature exists solely for the luxury of humankind.“ [70]
Als Beleg zitieren Barrow und Tipler eine Stelle aus der Epitome der Metaphysik, in der Ibn Ruschd schreibt:
„Weshalb erschuf Gott von der vegetativen und animalischen Seele mehr als eine einzige Art? Der Grund dafür ist, dass die Existenz der meisten dieser Arten auf dem Gesetz des Vollkommeneren beruht [min aǧli al-afḍal]. Wir können betreffs einiger Tiere und Pflanzen nachweisen, dass sie nur wegen der Menschen existieren, oder dass die einen wegen der anderen vorhanden sind. Betreffs anderer Tiere und Pflanzen ist dies jedoch nicht ersichtlich, so z. B. der wilden Tiere, die den Menschen und Pflanzen schädlich sind.“ [71]
Es gibt also auch Vollkommenheit jenseits der Nützlichkeit für den Menschen oder andere einzelne Tierarten. Das zitierte Gesetz des Vollkommeneren, wie es Max Horten nennt, besagt, dass es Dinge gibt, deren Nicht-Existenz unvollkommener wäre als ihre Existenz, selbst wenn sie uns nicht direkt nützen, oder relativ gesehen einen Makel beinhalten. Die Argumentation in der Epitome verläuft in etwa so: Gott und die himmlischen Intellekte sind vollkommen. Vollkommenheit äußert sich auch darin, dass sie nach außen kommuniziert wird. Die himmlischen Intellekte verursachen daher eine erste Materie, in der die von den Intellekten gedachten Formen neben ihrer rein geistigen Existenz auch eine in vergänglicher Materie erhalten. Averroes schreibt dazu:
„Die Existenz der Formen in diesem Zustande (in der Materie) ist notwendigerweise eine zweite (auf die erste, die himmlische folgende) Existenzweise. Insofern diese (die unvollkommenere Existenz in der Materie) aber eine reale Existenz ist, ist sie (immer noch) vorzüglicher als die Nichtexistenz.“ [72]
Man mag dieses auch schon von al-Gazālī (gest. 1111) prominent gemachte Modell einer besten aller möglichen Welten mit Blick auf das sichtbare Übel in der Welt für einen überzogenen Optimismus halten, oder auch nicht: In jedem Fall ist in der Schöpfung laut Averroes offensichtlich doch nicht der Mensch das Maß aller Dinge, sondern eine abstraktere Form von Vollkommenheit, die dem Menschen eindeutig zuspielt, ihn aber nicht ins absolute Zentrum stellt [73]. Neben diesem allgemeinen Vollkommenheitsargument nennt Ibn Ruschd noch weitere Antworten auf die Frage, wie sich Vollkommenheit mit der empirisch beobachteten Unvollkommenheit der Welt hinsichtlich Übel, Leid und Vergänglichkeit verträgt. So schreibt er in derselben Passage:
„Daher hat Gott diese Existenz für den Menschen vervollkommnet, die aber doch wegen des Menschen Entfernung von Gott Unvollkommenheit enthält.“ [74]
Entfernung heißt hier womöglich Folgendes: Es gibt eine zeitlose, himmlische Welt, in der alles vollkommen ist, und eine zweite Welt, die dieser nachgeordnet ist (also die sublunarische), die sich per Definition von der ersten mit Hinblick auf Vollkommenheit und Zeitlosigkeit nach unten hin unterscheiden muss. Ibn Ruschd liefert daneben auch physikalischer klingende Erklärungen der auf uns unvollkommen wirkenden Sachverhalte in der Natur, etwa dahingehend, dass
„(…) nämlich die meistens gegenseitige Vernichtung der Dinge nur in akzidenteller Weise erfolgt (nicht per se beabsichtigt ist) und auf Grund der Notwendigkeit, die in der Materie liegt [min qibali ḍarūrat al-mādda].“ [75]
Auch in der von Averroes hier eher ergänzend angerissenen Theodizee-Thematik stehen also Kategorien der Notwendigkeit der Materie im Vordergrund [76]. Dies verdeutlicht nochmals, dass er theologische Fragen in letzter Konsequenz nicht unabhängig von Naturwissenschaft und der damit verbundenen Vollkommenheitsmetaphysik beantworten wollte. Jede Existenz in Materie zahlt demnach einen Preis, den Averroes logisch aus den Bedingungen der Materie ableitet und daher auch nicht in Konkurrenz zur Vollkommenheit von Gottes Wesen bringen möchte.
5.3 Die naturgesetzliche Geschlossenheit der Welt und die Entstehung von Leben
Ibn Ruschd bestätigt zu Beginn des naturwissenschaftlichen Teils in seiner berühmten Replik auf al-Ġazālīs Philosophiekritik ausdrücklich die Möglichkeit von Prophetenwundern, sowie ihre basale Rolle in der Religion, die vergleichbar sei mit der Frage nach der Existenz Gottes, der Glückseligkeit und der Tugenden [77]. Zugleich seien Wunder ein Thema, das die menschliche Vernunft generell übersteigen würde [78]. Für den Regelfall der Naturabläufe hingegen, einschließlich der Beseelung von Lebewesen, spricht sich Ibn Ruschd im langen Kommentar zur Metaphysik sehr deutlich für Erklärungen aus, die ohne Unterbrechungen des kausalen Verlaufs der Naturabläufe auskommen, sei es direkt durch Gott, oder durch einen der ihm untergeordneten Intellekte. Das bedeutet konkret, dass zu keinem Zeitpunkt Materie oder deren Formen aus dem Nichts geschaffen werden. Dies entspricht einer Sichtweise, die die Gültigkeit und Verlässlichkeit der Naturgesetze metaphysisch abzusichern versucht. Und doch ist diese Sicht nicht materialistisch, oder schließt Gott als den eigentlichen Akteur der Welt aus. Der entsprechende Gedankengang des Ibn Ruschd sei hier auf kurzem Raum zusammengefasst [79]: Wirkursachen, die in der sublunaren Welt etwas erzeugen, d. h. die eine vorgefundene spezifische Materie mit einer bestimmten Form ausstatten, tun dies nicht durch Hinzufügen oder Kopieren der eigenen (an sich immateriellen) Form in die Materie, sondern durch Überführung einer Form, die in der Materie bereits als Potenzialität vorlag, in Aktualität. Demnach bringt auch Feuer Baumwolle nicht zum Brennen, indem sie in der Baumwolle die Form der Hitze neu erzeugt, sondern indem sie die bereits als Potenzialität in der Baumwolle vorhandene Hitze in Aktualität überführt. Dasselbe gilt für die Seelen der Lebewesen: Diese müssen nicht erst von himmlischen Intellekten neu erzeugt und eingefügt werden, sondern sie werden mittels äußerer Anregung durch Zusammenspiel eines nahen und fernen Bewegers (z. B. Vater und Sonne) aus der Potenzialität der Materie in Aktualität überführt. Wirkursachen regen also Umwandlungen der Materie von einer ihrer Möglichkeiten in eine andere an. Hier spielt die Synonymregel des Aristoteles eine entscheidende Rolle: Die Wirkursache muss ein Synonym in dem Sinne sein, dass es gänzlich oder zumindest in einem entscheidenden Aspekt derselben Gattung angehört wie das Objekt, das durch Einwirkung erzeugt werden soll. Darum kann nicht alles alles erzeugen. Die Naturgesetze schränken den Raum des für die Natur Möglichen radikal ein: Ein Mensch zeugt einen Menschen, ein Pferd zeugt ein Pferd. Jede belebte oder unbelebte Gattung hat eine gemeinsame Materie, in der eine Menge an Formen, d. h. an Realisierungsmöglichkeiten, als Potenzialität bereits vorliegt [80]. Eine realisierte Form steht für eine Art innerhalb der Gattung. Um dieses Potenzial zu aktivieren, genügt oft ein äußeres Anregen durch ein Synonym (manchmal durch zusätzliche Unterstützung einer entfernten weiteren Ursache wie die Strahlen der Sonne) – es ist kein vollständiges Eindringen in die Materie oder ein systematischer Neubau nötig, da wir es nicht mit erster Materie, sondern einer gattungsspezifisch erweiterten Materie zu tun haben. Denkbar ist hier auch ein durch Zwischenschritte vermittelter Erzeugungsakt, vergleichbar zum Handwerker, der die geplante Form in seiner Seele mittels Werkzeuge in die Form eines Werkstoffes abbildet.
Diese Sichtweise grenzt Averroes von vier anderen Modellen von Erzeugung ab [81]. Zum einen wird der okkasionalistische Ansatz der islamischen Kalām-Gelehrten verworfen, laut dem jede Eigenschaft eines Atoms in jedem Moment von Gott neu – also in gewisser Weise aus dem Nichts – erschaffen wird. Zusammen mit dem Okkasionalismus werden auch vergleichbare christlich geprägte Ansätze abgelehnt [82]. Denn eine Erschaffung aus dem Nichts ist im Naturmodell des Averroes nicht möglich, da hier per Definition eine Veränderung nur innerhalb einer gegebenen Materie – als Sinnbild von Möglichkeiten – von einer zu einer anderen Form möglich ist. Alles andere sei logisch unmöglich. Denn die Idee einer Erzeugung einer Form aus dem Nichts führe dazu, dass jede solche Form als Zusammensetzung einer grundlegenderen Materie und grundlegenderen Form gedacht werden müsse. Für eine echte Erzeugung aus dem Nichts, wie die Kalām-Theologen sie behaupteten, müsse aber auch diese grundlegendere Form aus einer noch grundlegenderen Materie und Form gewonnen werden, was laut Ibn Ruschd zu einem infiniten Regress führt, ohne dass man auf ein Nichts stößt. Seine Lösung lautet daher: Formen sind bereits zeitlos gegeben, ebenso auch Materie. Aber: Formen sind dabei stets Abbilder des göttlichen Wissens, und Materie ist eine ewige Wirkung der ewigen und von der göttlichen (Quasi-)Form beseelten Gestirne, deren Existenz vollkommener als ihre Nichtexistenz ist. Nur die Verbindungen von Form und Materie – manchmal auch Substanz genannt – sind zeitlich veränderbar und können entstehen und vergehen [83]. Zu diesen Verbindungen kommt es durch Aktualisierung einer als Potenzialität vorliegenden Form durch eine Wirkursache, die ein Synonym sein muss, die also die Form zumindest in einer relevanten Hinsicht bereits besitzt.
Analog hierzu lehnt Ibn Ruschd im langen Kommentar auch die Lehre des Ibn Sīnā von der Rolle des aktiven Intellekts als Geber der Formen in der sublunaren Welt ab [84]. Nach dieser Lehre entsteht ein Ding dadurch, dass einer gattungsspezifischen Materie vom aktiven Intellekt (oder in manchen Fällen: durch noch höhere Intellekte) ihre immaterielle Form durch Schöpfung derselben gegeben wird. Diese Lehre ist für Averroes nicht weit vom okkasionalistischen Ansatz entfernt, da in beiden Fällen quasi aus dem Nichts in der Materie eine immaterielle Form geschaffen wird.
Eine ähnliche Lehre hatte vor Ibn Sīnā schon der platonisch beeinflusste Aristoteleskommentator Themistios [85] (gest. 388) vertreten und damit begründet, dass in der Natur Lebewesen auch ohne die sichtbare Einwirkung eines Synonyms entstünden, also ohne artverwandte Wirkursache. Das Standardbeispiel hierfür ist die Beobachtung, dass in verfaulter biologischer Materie nach kurzer Zeit Larven von Insekten entstehen, ohne dass erzeugende Insekten beobachtet wurden [86]. Dieser früher als Spontanzeugung bezeichnete Vorgang, den man auch von anderen kleinen Tieren annahm, wurde von Themistios und anderen nun dadurch erklärt, dass das neue Leben aus der Fäulnis durch eine immaterielle Einwirkung belebt wird, dass also eine höhere Macht durch Erschaffung einer Seele unmittelbar eingreift, sobald die äußeren Bedingungen wie eine durch die Sonne erwärmte Wasser- oder Erdmasse gegeben sind.
Averroes hingegen, der direkte Einwirkungen immaterieller Kräfte aus Konsistenzgründen ausschließen möchte, erklärt diesen Vorgang so, dass die Wärme aus den Sonnenstrahlen, die auf Wasser und Erde einwirken, zusammen mit der von den anderen Gestirnen stammenden Wärme ausreicht, um die potenziell beseelte verfaulte Materie auch aktuell in den Zustand von Leben zu überführen [87]. Eben dies zeichnet den Ansatz des Ibn Ruschd aus: Weder werden die spontan entstehenden Larven als Monster (nach dem Kommentator Alexander Aphrodisias) [88] degradiert, noch wird eine eingreifende Erzeugung immaterieller Formen durch einen der himmlischen Intellekte gefordert (wie nach Themistios und Ibn Sīnā), noch wird eine rein zufällige, d. h. nicht durch Ursachen festgelegte Entstehung postuliert (wie durch die Materialisten). Vielmehr haben wir hier ein weitgehend naturalistisches Modell vorliegen, das alle seine Grundformen und seine Grundstruktur in jedem Moment der göttlichen Verstandestätigkeit als Primärursache verdankt, und innerhalb dessen die natürlichen Wirkursachen – als Sekundärursachen – genügen um alle Vorgänge des Werdens und Vergehens zu erklären.
6. Vereinheitlichung der Formen, oder die Suche des Averroes nach der Weltform(el)
Ibn Rušd schreibt zu Beginn des vierten Kapitels in seiner Epitome der Metaphysik:
„Es ist ferner in der Naturwissenschaft klargelegt worden, dass die Materien schließlich hinführen zu einer ersten Materie (Hyle), die real in den Dingen existiert. Dementsprechend stellt sich nun die Frage, ob auch die Wesensform ebenso hinführe zu einer ersten Wesensform, die real in den Dingen existiere, oder als unkörperliche.“ [89]
Die hier genannte erste Materie wurde in diesem Beitrag schon dargestellt. Wir werden nun zeigen, dass Averroes sowohl im Fortgang der Epitome, als auch an mehreren Stellen im langen Kommentar auf der angekündigten Suche nach einer ersten Wesensform (ṣūra ūlā) [90] Gedankengänge entwickelt, die den Rahmen der Metaphysik des Aristoteles verlassen [91] und in vielen Punkten Ähnlichkeiten zu einem der größten Projekte der modernen Physik haben. Bei diesem Projekt handelt es sich um den erfolgreichen Versuch der zunehmenden Vereinheitlichung der Naturgesetze [92], dessen ambitioniertes und noch nicht eingelöstes Endziel es ist eine Theory of Everything bzw. eine Weltformel [93] zu finden, die die ganze Vielfalt der Wechselwirkungen im Universum auf eine einzige einheitliche Wurzel zurückführt, deren Beschreibung durch eine sehr hohe mathematische Eleganz, Einfachheit und Schönheit ausgezeichnet ist [94]. So schreibt der Nobelpreisträger Steven Weinberg über Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, die im Bereich der Physik der Gravitation und der Raumzeit wesentlich zu diesem Vereinheitlichungsprogramm beigetragen hat, dass deren zentrale Gleichungen „eine Zwangsläufigkeit und folglich auch Schönheit“ [95] besitzen, derer ihre Vorgängertheorien entbehren würden. Einstein selbst bezeichnete diese Gleichungen als „schön und wie aus Marmor“ [96], im Unterschied zum noch nicht ausgereiften Teil seiner Theorie. Denn dieser sei „immer noch hässlich, wie aus rohem Holz“ [97].
Wir werden nun sehen, wie Averroes von der unübersichtlichen Vielfalt der Formen auf eine erste und alles bedingende Form schließt, die ebenfalls einfach, schön, also wie aus Marmor sein muss. Die hierzu benötigten Zutaten sind die Annahmen, (a) dass die Dinge in der Welt nicht nur hinsichtlich ihrer Bewegung, sondern auch hinsichtlich ihrer Form durch Gott verursacht sind, (b) dass der erste Beweger die Dinge abstrakt denkt und somit zugleich verursacht und (c) dass es im ersten Beweger keine Vielheit geben kann. Ibn Ruschd hat sich diesem Thema in seiner Metaphysik auf zwei Weisen angenähert, nämlich in der Epitome mit einem neuplatonisch inspirierten Ansatz und später im langen Kommentar in stärker aristotelisch-naturwissenschaftlichen Denkmustern [98]. Wir wollen nun die verstreuten, aber inhaltlich zusammengehörenden Passagen aus beiden Werken vorstellen und anschließend gebündelt darstellen.
6.1 Die Vereinheitlichung der Formen in der Epitome der Metaphysik
Im Folgenden fassen wir die uns hier interessierenden Gedanken des vierten und letzten Kapitels der Epitome zusammen: Wesensformen (im Folgenden einfach: Formen) können sowohl in den materiellen Dingen, als auch als Inhalt in Intellekten existieren. Im letzteren Fall existieren die Formen als Intelligiblia, also als begriffliche Vorstellung im Verstand. Aber wie kommen die Formen in einen Verstand? Diese können wie bei unserem Intellekt Abstraktionen von der Sinneswahrnehmung sein. Sie können aber auch – wie bei den himmlischen Intellekten – ihren Ursprung ohne den Umweg über Sinneserfahrungen direkt im göttlichen Intellekt oder in einem anderen übergeordneten Intellekt haben. Denn da die Intellekte laut der Epitome im neuplatonischen Sinne [99] reihenweise auseinander hervorgehen [100] und dabei stets ein Abbild des je höheren Intellekts darstellen, haben sie auch grundsätzlich dieselben Denkinhalte. Diese Denkinhalte sind gedachte Formen und stehen dabei verglichen mit unserer Welt der Einzeldinge als abstrakte Begriffe stets für eine Gattung gleichartiger Dinge, also nie nur für ein isoliertes materielles Einzelding [101]. Doch welche Formen denken die himmlischen Intellekte? Dieser Punkt ist entscheidend: Diese Denkinhalte umfassen alle existierenden Dinge [102]. Aber wie soll dies möglich sein, wenn Ibn Ruschd an anderer Stelle behauptet, dass alle Intellekte nur ihr eigenes Wesen bzw. das Wesen der Intellekte, die über ihnen sind, denken [103]? Dies wird dadurch möglich, dass das Wissen der Intellekte aufgrund des Ausstrahlens ihrer Vollkommenheit kausale Auswirkungen nach unten hat, also Abbilder von sich hervorbringt [104]. Der unterste Intellekt in dieser Reihe, also der aktive Intellekt, der der Mondsphäre zugeordnet ist, bewirkt durch das Denken der Formen, dass diese zugleich in die erste Materie sowie in alle komplexeren Materien der sublunaren Welt eingeprägt werden, wo immer die materiellen Voraussetzungen gegeben sind [105]. Es ist genau dieser Intellekt, den Averroes an anderer Stelle als Engel im islamischen Sinne – höchstwahrscheinlich als Ǧibrīl bzw. Gabriel – bezeichnet [106].
In der sublunaren Welt tritt also erstmals vergängliche Materie im Sinne der Natur auf und macht so Einzeldinge möglich, die aber immer auch vergänglich und unvollkommen sind. Auf dieser Stufe endet also die direkte Verursachung neuer immaterieller Intellekte und wir finden stattdessen (a) die Welt des Entstehens und Vergehens vor, sowie (b) uns selbst mit unserem Intellekt, der jedoch eng mit Materie und Sinnen verbunden ist, und daher die Formen nicht mehr rein, sondern nur anlässlich von Sinneserfahrungen denkt und erst durch Unterstützung des aktiven Intellekts als abstrahierte Form erkennt. Die Formen, die wir erkennen, sind aufgrund der allgegenwärtigen Rolle der Materie nur mit Anstrengung in ihrer für uns maximal möglichen Vollkommenheit zu erkennen. Diese maximale Möglichkeit ist beheimatet im wissenschaftlichen Studium der Natur nach den Regeln der philosophischen Wissenschaft und damit auch der Naturwissenschaft, die das zeitlos Wahre aus dem Vergänglichen extrahiert.
Die Intellekte denken die abstrakten Formen der Einzeldinge unterschiedlich vollkommen. Am vollkommensten denkt sie Gott, mit abnehmender Vollkommenheit die himmlischen Intellekte und am unvollkommensten wir [107]. Und doch sind es an sich dieselben Inhalte, die die Intellekte denken, nämlich die existierenden Dinge und ihre Ordnung:
„Da unser aktueller Intellekt nichts anderes ist als das Denken der Ordnung und des Regelmaßes, die in dieser Welt und in jedem ihrer Teile herrschen (…), so folgt notwendig, dass der Intellekt, der unseren Intellekt bewirkt, keine andere Quiddität [d. h. grundsätzliches Wesen] als das Denken solcher Dinge hat, wenn er sie auch in vorzüglicherer Weise denken muss (…)“ [108]
Dies Beziehung setzt sich bis zu Gott hin fort:
„Es ergibt sich nun weiter ebenso, dass der Intellekt, der den tätigen Intellekt [der untersten Himmelssphäre] bewirkt, keine anderen Begriffe als der tätige Intellekt hat (…) Dasselbe gilt für die anderen Intelligenzen, bis schließlich das erste Prinzip das Weltall in einer edleren Weise denkt als in einer von denen, wodurch sich die immateriellen Intelligenzen voneinander an Rang unterscheiden können.“ [109]
Worin unterscheidet sich nun unser Denken über die Welt vom Denken der himmlischen Intellekte über dieselbe in qualitativer Hinsicht? Der erste Unterschied betrifft den zwischen uns hier unten und den himmlischen Intellekten oben:
„Der Geist (das Denken) und das Gedachte sind in den rein geistigen Substanzen [Wesen] in noch höherem Sinne vereinigt als es in uns der Fall ist; denn das Denken (der Geist) in uns verhält sich, auch wenn es identisch ist mit dem Gedachten selbst, jedoch so, dass es eine Verschiedenheit aufweist infolge seiner Beziehung zur Materie.“ [110]
Die Beziehung zur Materie erschwert also das klare Erkennen der Formen, also das Abstrahieren und somit den Kontakt oder gar die Vereinigung [111] mit dem aktiven Intellekt. Vom anderen Ende her formuliert „(…) ist es notwendig, dass jener Geist [der aktive Intellekt] diese Dinge in einer vorzüglicheren Weise denkt (als wir Menschen)“ [112]. Aber auch innerhalb der himmlischen Intellekte gibt es verschiedene Grade an interner Einfachheit, obwohl bei allen von diesen – aufgrund der Freiheit von vergänglicher Materie – Denken und Gedachtes bereits grundsätzlich identisch sind. Diese Unterschiede an Einfachheitsgraden und somit an Vollkommenheit hängen laut Averroes davon ob, von wie vielen Prinzipien, d. h. von wie vielen noch höheren Intellekten ein himmlischer Intellekt abhängig ist:
„Je weniger eine geistige Substanz, um sich ihr Wesen vorzustellen, einer Anzahl anderer Prinzipien bedarf, besitzt sie in höherem Sinne die Einfachheit. Folglich ist das erste, im wahren Sinne Einfache nur dasjenige, das, um sich sein Wesen vorzustellen, keines äußeren Gegenstandes bedarf (Gott).“ [113]
Aus dem Gesagten können wir folgern, dass es laut Ibn Ruschd beim Aufstieg durch die Himmel zu einer Vervollkommnung und Vereinheitlichung der Formen kommt, bis schließlich alle Formen im Intellekt Gottes zu einer einzigen Form oder zu einer Art vereinheitlichtem Formenbündel zusammenlaufen, da in Gottes Vollkommenheit keine Vielheit existieren kann, bzw. da in den zugespitzten Worten des Ibn Ruschd „er Einer und ein Einfacher ist, in dessen Wesen in keiner Weise eine Vielheit denkbar ist“ [114]. Die im göttlichen Intellekt vorfindliche Ur-Form ist damit die Wesensform, die Ibn Ruschd zu Beginn dieser Untersuchung in Aussicht gestellt hatte, und die die erste Formursache aller Formen darstellt.
6.2 Die Vereinheitlichung der Formen im langen Kommentar zur Metaphysik
Im langen Kommentar sind viele dieser Überlegungen erhalten, [115] jedoch ohne eine Betonung der stufenweise kausalen Verursachung der unteren Intellekte durch die oberen, oder der stufenweise abnehmenden Einheit des Denkens der himmlischen Intellekte. Ibn Ruschd geht hier so weit die in der Epitome noch vielfach präsente Emanationsidee der islamischen Philosophen namentlich zu erwähnen und abzulehnen [116]. Denn diese würde dazu führen in der ewigen Himmelswelt Potenzialitäten einzuführen, die erst durch Handelnde aktualisiert werden müssten, was ja ein Merkmal der sublunaren Welt ist [117]. Ibn Ruschd deutet die translunare Welt hier so, dass die Intellekte sich durch das Denken der Intellekte über sich, deren begriffliche Vollkommenheit sie anstreben, vervollkommnen. Die Gesamtheit der Intellekte folgt somit letztlich wieder dem göttlichen Intellekt, was zur Einheit und Vollkommenheit auch des sichtbaren Universums führt.
Der Unterschied dieses Ansatzes zur Emanationslehre ist manchmal als völlige Abkehr und manchmal auch als ein gefährliches Nahekommen verstanden worden. Für unsere spezielle Fragestellung ist dies jedoch nicht der entscheidende Punkt. Interessanter für uns ist, dass sich zusammen mit dieser neuen Schwerpunktsetzung im langen Kommentar Überlegungen zu den physikalisch-kausalen Mechanismen finden, die von den ewigen Formen bzw. dem einheitlichen Formenbündel im göttlichen Intellekt zu den vergänglichen und vielfältigen Dingen unserer Welt führen [118]. Wir haben diese bereits im Abschnitt über die spontane Entstehung von Leben gesehen. Im Folgenden soll anhand von drei Stellen des langen Kommentars gezeigt werden, wie nah Ibn Ruschd auch hier der Idee einer vereinheitlichten Theorie kam, die die Vielfalt der Welt mit einem einfachen, fruchtbaren und maximal symmetrischen formalen Ausgangspunkt verbindet. So erklärt Averroes das physikalische Zusammenspiel der Naturkräfte, die von den Gestirnen ausgehend die Erde erreichen und zur Entstehung von Leben führen, wie bereits erwähnt mit den Worten:
„Diese Bestimmung entspringt der göttlichen Vernunfttätigkeit, die der einen Form des einen leitenden Handwerks ähnelt, dem verschiedene Handwerke untergeordnet sind.“ [119]
Wenn diesem einen Handwerk alle anderen Handwerke, d. h. die prozessartigen Wirkungen der himmlischen Intellekte auf die sublunare Welt hierarchisch untergeordnet sind, dann bedeutet dies, dass Gottes vernunftförmiges Wirken eine Art von fundamentaler Form besitzt, die alle anderen Formen dirigiert und koordiniert, bzw. dass die anderen Handwerke dem leitenden Handwerk Folge leisten. Man darf vermuten, dass diese fundamentale Form als allgemeinste Gesetzmäßigkeit („leitendes Handwerk“) innerhalb des Universums zu verstehen ist, die laut Averroes in der göttlichen Vernunft wurzelt und auch die Verhältnisse der Bewegungen der Gestirne zueinander bestimmt.
Aristoteles selbst hatte dieser Verbindung zwischen den Formen in der Natur und dem göttlichen Intellekt in seinen Ausführungen keine Beachtung geschenkt. Es reichte ihm, wenn Gott durch die Wirkung seiner Vollkommenheit als Zweckursache die ewige Bewegung des Fixsternhimmels und damit indirekt alle weiteren Prozesse des Entstehens und Vergehens in der sublunaren Welt am Laufen hielt. Bei Ibn Ruschd hingegen sind alle Formen in der Natur und somit alle Dinge letztlich vom göttlichen Verstand verursacht, ja sogar wie schon dargestellt abgeleitet von einer Art erster Form, in der alle anderen Formen in vollkommenster und einheitlichster Weise von Gott gedacht werden. Dieser für Ibn Ruschds Metaphysik charakteristische Zug zeigt sich in seinem langen Kommentar auch zu einer Stelle der Metaphysik des Aristoteles, in der letzterer bei einer Darstellung der Prinzipien der Substanz beiläufig schreibt: „Außerdem besteht das daneben, was als Erstes alles bewegt“ [120]. Averroes präzisiert diese kryptische Nebenbemerkung durch folgende Interpretation:
„Da der äußerste Beweger von allem, ich meine den ersten Beweger [Gott], in einem Sinne unter derselben Bedingung steht wie der nächste Beweger [z. B. der Vater, der ein Kind zeugt], und da der erste Beweger alle Formen bewegt, ist es klar, dass die Form des ersten Bewegers in einem bestimmten Sinne alle Formen ist.“ [121]
Offensichtlich wendet hier Averroes die Synonymregel in einem weiteren Sinn auch auf die Beziehung zwischen Gott und der Natur an und stellt somit eine formale Verbindung von oben und unten her. Allgemein galt ja gemäß der Synonymregel: Formen werden an einer Materie von der Potenzialität in Aktualität übergeführt durch eine Wirkursache, die selbst diese Form oder einen Aspekt dieser Form besitzt. Von dieser auf Gott hin zuspitzenden Deutung grenzt sich beispielsweise die Deutung des Alexander von Aphrodisias ab, der postuliert, dass für Gottes Wirken schlichtweg die Synonymregel gar nicht gelte, da Gott nicht als Wirkursache, sondern als Zweckursache wirken würde, also als Vollkommenheit, nach der alles andere strebt [122]. Ibn Ruschd hingegen will gerade aufzeigen, dass Gott nicht nur abstrakte Zweckursache, sondern auch erste Formursache für die Dinge in der Welt ist, was ihn dazu führt die Verbindung zwischen den Formen der Welt und dem Wirken Gottes mit einer Art von Synonymregel zu beschreiben. Das führt uns wieder zum Ergebnis, dass die vielen Formen in der materiellen Welt mit Aufstieg zu ihren höchsten Prinzipien in einer Art von Ur-Form im göttlichen Intellekt zusammenlaufen: Sie sind dort mit Blick auf die Vielfalt im Universum weiterhin noch „alle Formen“, zeigen sich aber mit Blick auf die Einheit des ersten Bewegers und Formengebers als eine einzige, einfache und alles umfassende Form, wie wir im dritten Hinweis gleich deutlicher zeigen werden. Zugleich ist die Verbindung zwischen Gott und den Formen hier unten keine direkte, sondern wird über ein System von vermittelnden Größen vollzogen, die ihrerseits alle von Gott gewirkt sind. Es ist letztlich das Weltganze, das die Ur-Form in entsprechenden Differenzierungen nach unten hin realisiert.
Im dritten Hinweis vergleicht Ibn Ruschd die Grade der Einheit zwischen Denken und Gedachtem bei den himmlischen Intellekten und schreibt über den göttlichen Intellekt Folgendes:
„Wenn der [göttliche] Intellekt und das Intelligible vollständig vereint sind, dann erfordert dies, dass die vielen Intelligiblia dieses Intellekts sich vereinigen, und für diesen Intellekt eins und einfach in jeder Hinsicht werden.“ [123]
Das bedeutet, dass die verallgemeinerten Wesensformen der Dinge im Universum, die von uns sinnlich erkannt, aber von den Intellekten auf vollkommenere Weise gedacht werden, im Intellekt Gottes auf vollkommenste Weise gedacht werden. Und diese vollkommenste Weise besteht darin, dass seine Denkinhalte (Intelligiblia), also die Formen vereinigt werden zu einer einzigen Form. Diese einzige Form ist aber nicht etwa kompliziert, wie beispielsweise ein Register von Gegenständen, oder wie unser Gehirn, sondern eine perfekte Einheit, einfach und elegant in jeder Hinsicht, aber trotzdem im vollständigen Besitz des Keimes für den Plan des gesamten Universums, vom System der Gestirne, bis hin zur natürlichen Erzeugung von vernunftbegabten Wesen in der sublunaren Welt.
7. Fīhi naẓar: Weltform oder Weltformel? Ein metaphysischer Erzkonflikt
So wie viele große Physiker auf der Suche nach einer Weltformel bzw. der vereinheitlichten Feldtheorie waren, die alle physikalischen Wechselwirkungen in einem abstrakten Prinzip elegant vereint, so war auch Averroes auf der Suche nach einer abstrakten Ur-Form (ṣūra ūlā) mit Sitz im göttlichen Intellekt, die alle Formen in einer Art Weltform bündelt. Wenn wir die Kapitel in diesem Beitrag zu einer Gesamtschau zusammenführen, dann lassen sich folgende neun Merkmale dieser averroesischen Ur-Form anführen, die alle gleichzeitig erfüllt sein müssen. Zunächst sind da die Eigenschaften von allen Formen, die in Intellekten existieren, nämlich
(a) ihre an sich bestehende Immaterialität und somit ihre Zeitlosigkeit,
(b) ihre rein begriffliche Struktur, die damit ohne sinnliche Qualität auskommt und
(c) ihre von Einzeldingen abstrahierende Allgemeinheit.
Averroes nennt für die Ur-Form des Weiteren als weitere Merkmale ausdrücklich
(d) ihre Eleganz, das heißt ihre Einheit und Einfachheit in jeder Hinsicht.
(e) ihre kosmologisch strukturierende Rolle,
(f) ihre universelle Passung mit Blick auf alle Formen, d. h. auf alle Wesenheiten in der Welt,
(g) die Immanenz ihrer Wirkungsweise, die ohne Unterbrechungen der Naturprozesse auskommt,
(h) ihre Zweckorientierung, die die für Materie eben erreichbare Vollkommenheit sowie menschliches intelligentes Leben ermöglicht, jedoch (gemäß der Epitome) ohne den Menschen selbst zum Zweck aller Geschöpfe zu machen.
Ibn Ruschd argumentiert in der Epitome und im langen Kommentar für die Existenz dieser Ur-Form, lässt jedoch offen, wie man sich diese Ur-Form vorzustellen hat. Wir erfahren jedoch in der Epitome von
(i) ihrer zumindest partiellen Erkennbarkeit für die Intellekte unterhalb von Gott, aber unter zunehmendem Einheitsverlust nach unten.
Damit beschreiben (a) bis (d) die formalen Merkmale der Ur-Form, (e) bis (h) ihre Implikationen für die Natur und (i) ihren erkenntnistheoretischen Status. Um versuchsweise den Punkt (i) der Erkennbarkeit zu explizieren: Für uns wäre laut der Epitome die maximale Erkennbarkeit der Ur-Form zum einen beschränkt durch das Ausmaß unserer Fähigkeit an Vereinigung mit dem aktiven Intellekt, und somit praktisch gesprochen dem Grad unserer eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit bzw. unserer eigenen Fähigkeit von Materie vollständig zu abstrahieren. Zum anderen (und dramatischer) wären wir womöglich auch einschränkt durch die Abnahme der internen Einfachheit der himmlischen Intellekte bis hinab zum aktiven Intellekt, sodass der aktive Intellekt selbst die Ur-Form womöglich gar nicht mehr als einfach in jeder Hinsicht erkennt. Im averroesischen Modell wäre damit das erste für uns eine subjektive und korrigierbare, das zweite jedoch eine objektive und absolute Erkenntnisgrenze für die Weltform(el).
Kommen wir nun zu den formalen und naturbezogenen Aspekten, die Ibn Ruschd nennt, und die einige Vergleiche mit der modernen Physik ermöglichen. Die oben genannten Eigenschaften (a) bis (g) lassen sich fast wortgetreu auf einige notwendige Bedingungen für die in der Physik gesuchte Weltformel, bzw. für alle teilweise erfolgreich unifizierende physikalische Theorie übertragen. Eben dies rechtfertigt es die Idee der Weltformel mit der averroesischen Idee der Ur-Form zu vergleichen. Die Frage nach einer Zweckorientierung der Weltformel hingegen wird so in der Naturwissenschaft nicht mehr gestellt. Jedoch führen die Versuche die mehrheitlich anerkannten Feinabstimmungen im Kosmos zu Gunsten der Entstehung von komplexem Leben rational zu erklären unweigerlich zu naturphilosophischen Diskussionen um das schwache und das starke anthropische Prinzip, die von Empirie alleine nicht vorentschieden werden können. Zweckfragen sind also nicht zwingend deckungsgleich mit thematisch verwandten empirischen Fragen. Zur Frage nach der prinzipiellen Erkennbarkeit der Weltformel wiederum sagt die Physik selbst freilich gar nichts, da dies keine Frage im Rahmen der naturwissenschaftlichen Methode ist.
Es gibt bei all den genannten Parallelen zwischen moderner Physik und averroesischer Philosophie auch gravierende Differenzen. Diese sind vor allem (1) die dramatischen Weiterentwicklungen des physikalischen Weltbildes seit Ibn Ruschd, (2) der methodologische Verzicht der Naturwissenschaft die Naturgesetze oder gar eine Weltformel in einem ersten (göttlichen) Intellekt oder in einer Ideenwelt außerhalb der Materie zu positionieren, und (3) die unumkehrbare Tendenz aller Grundlagenwissenschaft die traditionellen Formen evolutionär zu deuten und somit kosmologisch zu historisieren um dafür (4) mathematisch codierte Grundierungen der physikalischen Wirklichkeit im Sinne der Relativitätstheorie und der Quantenfeldtheorien zu formulieren, die sich bisher als wesentlich universeller und empirisch belastbarer als die traditionellen Formen zeigen, und die selbst die vier Elemente des Empedokles als emergente (oder superveniente) Phänomene auf höheren Organisationsstrukturen der Materie erklären und sie somit hinsichtlich ihrer Grundsätzlichkeit abstufen.
Gehen wir die vier Konfliktpunkte kurz durch:
(1) Die Veränderung des Weltbildes wirft die Frage auf, ob es möglich ist die im engeren Sinne naturphilosophischen Thesen des Ibn Ruschd zu abstrahieren von den überholten empirischen Elementen seiner Philosophie wie etwa dem geozentrischen Weltbild, das eine (einzige) statische Erde im Mittelpunkt postuliert, oder die Beschränkung des Universums auf das, was damals den Augen zugänglich war. Zu zeigen, dass dies möglich ist, war eine der Zielsetzungen dieses Beitrages.
(2) Der Verzicht auf supranaturale Entitäten im Rahmen naturwissenschaftlicher Erklärungen ist heute ein bewährtes Postulat jeder empirisch orientierten Naturwissenschaft. Das bedeutet keineswegs, dass ein konsequenter Metaphysikverzicht in rationaler Sicht notwendig oder auch nur konsistent möglich wäre, sondern dass rein empirische Fragen („Wie verhalten sich die Dinge? Welche Gleichungen beschreiben dieses Verhalten am besten?“) und metaphysische Fragen („Was ist das Wesen der Dinge? Was die Ursache der Gültigkeit von Gleichungen überhaupt?“) nicht miteinander vermischt werden sollten, wenn man nicht hinter die moderne Naturwissenschaft zurückfallen möchte. Vielmehr müssen metaphysische Sätze anders diskutiert werden, z. B. entlang allgemeiner Rationalitätskriterien oder mit Blick auf ihre subjektiven Auswirkungen oder im Rahmen einer enger definierten Deutungstradition. Akzeptiert man eine solche Unterscheidung, dann eröffnet sich ein breites Diskussionsfeld für eine moderne Naturphilosophie, die die moderne Naturwissenschaft anerkennt und – ohne Vorentscheidungen über konkrete empirische Theorien zu erfordern – neben materialistischen auch theistische Metaphysiken vorschlagen kann, wie es etwa im Science-and-Religion-Diskurs seit Ian Barbour auf gutem Niveau denkbar geworden ist.
(3) Die evolutionäre Historisierung der traditionellen Formen ferner ist und bleibt eine große Herausforderung für alle Weltbilder mit vertikalen ontologischen Hierarchien wie bei Averroes oder Thomas von Aquin. Es wäre ein Selbstwiderspruch der modernen Naturwissenschaft ohne empirisch zwingenden Grund und „nur“ der philosophischen Theologie zuliebe traditionelle Formen als Teil der Naturwissenschaft zu postulieren bzw. sie so zu retten zu wollen. Zugleich versteht sich methodisch reflektierte Naturwissenschaft nicht als Pauschalersatz für Philosophie oder Theologie, solange es nicht um empirische Fragen geht. Es gilt vielmehr, dass in allen Weltbildern empirische und metaphysische Sätze unterschieden werden sollten, sodass klar wird, dass ein großer Teil der metaphysischen Sätze gar nicht in direkten Konflikt mit Naturwissenschaft treten kann und daher anders (z. B. rational oder im Rahmen einer Texttradition) diskutiert werden muss. Für ein solches Verständnis von Metaphysik schlägt beispielsweise der an Thomas von Aquin anknüpfende Religionsphilosoph Hans-Dieter Mutschler vor: „Metaphysik wäre der Ort, wo die vertikale Dimension zur Sprache kommt. Sie würde eine ‚scala naturae’ enthalten, natürlich in evolutiv transponierter Form“ [124].
(4) Kommen wir schließlich noch zur distanzierten Haltung des Averroes zur Mathematik, wenn es um metaphysische Fundamente und die Erschließung der Formen geht. Der Trend in der modernen Wissenschaft ging eindeutig in Richtung einer radikalen Mathematisierung aller Grundlagentheorien, sowie zu einem Reduktionismus der Formen in Richtung der Eigenschaften mikroskopischer Bausteine, was schließlich zur allmählichen Verflüssigung makroskopischer Wesensformen in den empirischen Theorien führte: Die mikroskopischen Bausteine sind es, die im Fokus der meisten fundamentalen Theorien der Physik stehen, und für die sehr elegante mathematischen Formalismen mit hoher Erklärungs- und Vorhersagekraft gefunden wurden. Komplexere Dinge und Wesen, die auf höheren Organisationsstufen von Materie auftreten, konzeptionalisiert die moderne Wissenschaft eher phänomenologisch als mögliche Realisierung komplexer Systeme aus den kleinsten Bausteinen – zugleich ohne emergente Phänomene zwingend auszuschließen oder die Möglichkeit weiterer Wirklichkeitsebenen absolut zu negieren. Bei Ibn Ruschd hingegen ist es noch umgekehrt: Er misstraute der Mathematik als Grundlage für die Metaphysik, nicht zuletzt, weil die Annahme idealer mathematischer Objekte den Platonismus aufwerten würde, den die aristotelische Tradition gerade zu entkräften versucht [125]. Entsprechend sucht er nicht in Arithmetik und euklidischer Geometrie nach metaphysischen Brücken in Richtung der ersten Ursache, sondern in den empirisch sichtbaren Erscheinungen der Natur und ihren kausalen Abhängigkeiten voneinander. Demnach hatte das Abzählen der aus heutiger Sicht in keiner Weise fundamentalen Kreisbewegungen der Planeten unseres Sonnensystems eine größere Relevanz für seine Metaphysik als die an sich schon zeitlos definierte Mathematik. Dieses Missverhältnis in der averroesischen Philosophie hängt freilich nicht nur mit den philosophischen Präferenzen des Averroes zusammen, sondern auch mit dem Wissensstand der damaligen Zeit, in der eine Einteilung des Kosmos in eine sublunare und translunare Welt vielen Philosophen haltbar schien [126], sowie mit den erst ein halbes Jahrtausend später auftretenden mathematischen Werkzeugen der modernen Physik wie der Differenzial- und Vektorrechnung, sowie später beispielsweise der Gruppentheorie und der Riemannschen Geometrie. Es ist erstaunlich, dass Averroes trotzdem Ansätze einer Theorie der Ur-Form entwickelt hat – siehe die obige Merkmalsliste –, die mit mathematischen Objekten wesentlich eleganter und anschaulicher handzuhaben gewesen wäre als mit den damals der Phänomenologie entlehnten Formen, deren absolute Abstraktion und Vereinheitlichung auf eine Ur-Form hin selbst für einen so großen Denker wie Averroes nicht möglich war.
Heute hat sich die Diskurssituation auf dramatische Weise verschoben: Unter Physikern und Mathematikern gibt es entgegen aller Skepsis der Philosophen eine ernst zu nehmende Anzahl an Stimmen [127], die aus verschiedenen Gründen eine aktualisierte Form von mathematischem Platonismus vertreten, laut dem manche mathematische Strukturen eine eigene objektive Existenz jenseits unseres Geistes sowie jenseits konkreter materieller Träger besitzen. Zur dabei aufgetretenen Diskrepanz zwischen platonistischen Spitzenmathematikern und skeptischen Philosophen schreibt der Philosoph Bernulf Kanitscheider pointiert:
„Die platonistischen Überzeugungen der [mathematischen] Fachwissenschaftler werden [von Seiten der Philosophen] sehr oft mit einem überlegenen logischen Lächeln beiseitegeschoben.“ [128]
Dies ist eine von der Theologie noch kaum beachtete Folge der bahnbrechenden Erfolge der modernen Mathematik, sowie der mathematisch arbeitenden theoretischen Physik. So hat letztere im mathematischen Elfenbeinturm mehr als nur einmal versteckte abstrakte Zugänge zur physikalischen Wirklichkeit vorgefunden. In den Texten naturwissenschaftlich und mathematisch geschulter Philosophen wiederum ist das Thema schon lange bekannt und wird ernst genommen. So schreibt der ausgewiesene Naturalist Kanitscheider über die heutige Debatte über Ontologie und Metaphysik:
„Es spricht einiges dafür, dass das Forum der Auseinandersetzungen heute schwerpunktmäßig nicht mehr durch die transzendente Metaphysik, sondern durch die Mathematik bestimmt wird. Wenn eine nichtnaturalistische Gegenstandswelt noch eine Chance hat, dann bei der Frage nach der Existenz und Beschaffenheit der mathematischen Strukturen.“ [129]
Die meisten Theisten würden diese Auffassung einer Beschränkung von Metaphysik auf Fragen der Mathematik eher nicht teilen, aber vielleicht dennoch über die unerwartete Brisanz staunen, die das Philosophieren über Mathematik und mathematische Physik über den reduktiven Naturalismus gebracht hat. Zugleich sehen Autoren wie Mutschler in diesem neuen metaphysischen Potenzial der Mathematik auch eine Gefährdung metaphysischen Denkens:
„Nachdem in der Antike Platonismus und Materialismus Gegensätze waren… vereinigen sie sich im Rahmen der mathematischen Physik, weil diese Wissenschaft durch ihre mathematische Form ein ideelles Element enthält, das aber materialistisch geerdet wird.“ [130]
Diese Deutung, dass die moderne Physik Ansätze der platonischen Ideenlehre enthält, ist freilich nicht zwingend. Ferner gibt es in der Philosophie der Mathematik auch zahlreiche instrumentalistische Lesarten, die die metaphysische Frage ganz zu umgehen versuchen. Wenn man aber bestimmten mathematischen Strukturen, insbesondere im Umfeld der physikalischen Grundlagentheorien, einen eigenen erhöhten ontologischen Status zuschreibt, und somit Ansätze eines mathematischen Platonismus vertritt, dann bleiben immer noch zahlreiche Optionen offen. Hiervon seien hier nur vier genannt. Zum einen könnte man
(a) skeptisch bleiben und die metaphysische Universalität des reduktionistischen und „nach oben“ [131] hin alles vereinfachenden und vereinheitlichenden Programms der naturwissenschaftlichen Weltformelsuche in Frage stellen. Dann würde die transzendente Metaphysik mit ihrem Blick auf die „vertikale Dimension“ nicht zu eng mit der Grundlagenphysik verschaltet. Dies ist Mutschlers Präferenz [132]. Vergleichbar dazu wäre die These, dass unsere Erkenntnisfähigkeit bereits schon bei der naturwissenschaftlichen Frage „nach oben“ (siehe den Punkt i) oben) soweit eingeschränkt ist, dass wir nie zu einer konsistenten Weltformel durchstoßen könnten, beispielsweise, weil die Mathematik grundsätzliche Grenzen hinsichtlich ihres Weltbezuges hat. Wir hatten dies bei der Interpretation der Epitome des Ibn Ruschd als mögliche Implikation erschlossen. Sieht man aber die vereinheitlichende Grundlagenphysik und auch die Mathematik allgemein als hochgradig relevant für die Metaphysik an, dann kann man
(b) den Weg eines mathematischen Platonismus gehen, wie etwa der Kosmologe Max Tegmark es auf geradezu barocke Weise getan hat, und versuchen Folgerungen daraus zu ziehen, auch ohne auf Begriffe wie Gott zu rekurrieren [133]. Ein dritter Weg besteht
(c) in einem aristotelischen Ansatz, der mathematischen Formen eine Realität zuspricht, aber nur in Verbindung mit Materie, oder mit Kanitscheider gesprochen: als naturalisierter Platonismus. Dies ist die Wahl, die Kanitscheider selbst bevorzugt, und die ebenfalls keinen Gottesbezug hat [134]. Ein vierter Weg schließlich bestünde
(d) in einer mathematisierten Lesart der Metaphysik des Ibn Ruschd im Sinne dieser Studie: Seine Ur-Form bzw. Weltform, die in mathematische Kategorien umgedeutet vergleichbar mit der Idee der Weltformel wird, steht ähnlich wie im Platonismus am formal-kausalen Anfang aller Dinge, jedoch nicht als eigenständige Entität, sondern als Gedanke im Intellekt bzw. im Wesen Gottes – ein Gedanke, der unter den Bedingungen von Materie in die Struktur des Kosmos und der Welt eingearbeitet wird und so die Mannigfaltigkeit an Einzeldingen hervorbringt, die allesamt durch Naturprozesse entstehen, deren gesamter Entwurf jedoch einer abstrakten Struktur im Wissen Gottes folgt [135]. Es ist schwer vorstellbar, dass ein solcher Ansatz als „materialistisch geerdet“ (Mutschler) verstanden werden muss, wenn nach Averroes die Form ontologisch Priorität vor aller Materie besitzt, und die Ur-Form zu einem Intellekt gehört, der „wahres Leben“ (Aristoteles) hat. Es wäre nun eine Aufgabe von Theologie und Philosophie zu prüfen, inwieweit ein solcher erweiterter averroesischer Ansatz [136] neben dem (naturwissenschaftlich) Wahren auch das (ethisch und religiös) Gute und Schöne samt bestimmter Formen integrieren kann, wie es Averroes und generell auch (nicht nur) islamischer Glaube nahelegen würden. Dazu wäre freilich eine tiefreichende Erschließung der philosophischen und theologischen Perspektiven auf die mathematische Physik sowie die Philosophie der Mathematik Voraussetzung. Ein voreiliger Metaphysikverzicht oder eine rein historisch oder sozialkonstruktivistisch arbeitende Theologie und Philosophie hingegen, würde nur materialistischer Metaphysik zuspielen.
8. Fazit in acht Thesen
Abschließend sollen nun die aus Sicht des Autors relevantesten Ergebnisse dieser Studie in Form von acht Thesen verdichtet werden. Neben mehreren Einzelfragen ist das Hauptthema dieser Thesen die Frage, welche Perspektiven Ibn Ruschd heute für einen theistischen und insbesondere für einen islamisch-theistischen Zugang zur Philosophie der modernen Naturwissenschaften eröffnet. Ein Vergleich mit konkurrierenden Ansätzen aus der islamischen Kalām-Theologie und dem theoretischen Sufismus, sowie eine Untersuchung der Ibn Ruschd-Rezeption von zeitgenössischen muslimischen Naturwissenschaftlern wären weitere wichtige Schritte, die an anderer Stelle erfolgen sollen. Fangen wir also mit der ersten ernüchternden, aber zugleich notwendigen These an:
These 1: Die Philosophie des Averroes ist in vielen naturwissenschaftlichen Anteilen überholt
Um die aktuelle Relevanz der Philosophie des Ibn Ruschd herausarbeiten zu können, muss man zunächst seine Philosophie von den wissenschaftlich überholten empirischen Anteilen seines aristotelisch geprägten Weltbildes abstrahieren, die ihn an zahlreichen Irrtümern beispielsweise der geozentrischen Astronomie, und dass es nur eine Erde geben könne, festhalten ließen. Ähnlich überholt ist freilich auch seine allgemeine Forschungsmethode. Dieser Beitrag bezweckte unter anderem zu zeigen, dass solche Unterscheidungen zwischen zeitlosen und empirisch gebundenen Anteilen der Philosophie des Averroes möglich und sehr fruchtbar sind.
These 2: Die allgemeinere Naturphilosophie des Averroes ist auch heute noch relevant
Die Naturphilosophie des Ibn Ruschd enthält zahlreiche Elemente, die auch für die heutige Naturphilosophie und für eine (nicht nur) islamische Theologie der Natur interessante Denkfiguren und metaphysische Deutungsmodelle anbieten. Man wird Ibn Ruschd gerecht, wenn man ihn heute als eine von vielen Stimmen der intellektuellen islamischen Tradition und darüber hinaus behandelt, die alle hilfreich für eine Aufarbeitung der Herausforderungen der Gegenwart sein können. Man wird ihm nicht gerecht, wenn man ihn auf einen Gegner al-Ġazālīs oder Ibn Sīnās reduziert und mit anachronistischem Blick die damaligen Polemiken in die Gegenwart projiziert.
These 3: Averroes war auch als Aristoteliker ein kreativer systematischer Denker
Ibn Ruschd war kein naiver Aristoteles-Literalist, sondern ein hochkarätiger islamischer Denker, der sein Leben lang unter anderem in Form seiner komplexen und sich ständig entwickelnden Aristoteleskommentare an einem Integrationsmodell von islamischem Schöpfungsglauben und rationaler Welterklärung insbesondere in Gestalt der Naturwissenschaften arbeitete. Insofern war für Averroes sein Aristotelismus nichts anderes als das rationale Bekenntnis eines Muslims zur Naturwissenschaft und Logik in seinem eigenen historischen Kontext.
These 4: Averroes steht als Philosoph für das christlich-islamisch-jüdische Erbe Europas
Ibn Ruschd ist die unstrittigste Schlüsselfigur der christlich-islamisch-jüdischen Tradition Europas. Er verdient sowohl innerhalb der muslimischen wie nicht-muslimischen Allgemeinbildung eine größere Würdigung in dieser Rolle. Averroes birgt in seiner Rolle als europäischer islamischer Philosoph gerade für heute ein hohes pädagogisches und bildungstheoretisches Potenzial von nicht zu unterschätzender gesamtgesellschaftlicher Relevanz in sich, das noch lange nicht hinreichend bekannt, geschweige denn ausgereizt wäre.
These 5: Die Frage nach der Vereinbarkeit seiner Philosophie mit dem Islam ist nicht eine des Ob, sondern des Wie
Averroes nur als Aristoteliker zu verstehen und ihn so außerhalb der islamischen Theologie zu verorten, bedeutet ihn grundsätzlich misszuverstehen. Um ihm gerecht zu werden, muss er stets auch als islamischer Denker und Gelehrter gelesen werden, wobei man bei der Lektüre seiner Texte immer auch die Hintergrundfrage stellen sollte: „Welches Modell der Vereinbarung mit dem Islam hat er hier im Sinn?“, auch wenn man seine Vereinbarkeitsansätze nicht teilen muss. Man wird ihm nicht gerecht durch bloßen Hinweis auf Widersprüche der Oberfläche einzelner Elemente seiner Philosophie zum tradierten Verständnis islamischer Religion.
These 6: Averroes deutet die Natur als ein von Gott gesetztes und zweckhaftes physikalisches System von Sekundärursachen
Ibn Ruschd entwickelte im Laufe seines Lebens ein Verständnis von Metaphysik, das einerseits vom göttlichen Ursprung aller Formen und somit – modern gesprochen – aller ontologischen Naturgesetze in Gott ausgeht, und die anderseits alle Prozesse in der Natur bis hin zur spontanen Entstehung von Leben alleine durch das Wirken dieser vom göttlichen Verstand ausgehenden physikalischen Mechanismen ohne okkasionalistische Zusatzeingriffe von oben in diese Kausalketten erklären möchte: Gott ist die Primärursache eines Kosmos, in dem die von ihm permanent gewirkten Sekundärursachen wirken. Diese und ähnliche Lehren machen ihn zu einem wichtigen Sprecher des wissenschaftlichen Rationalismus und zu einem der Vorbereiter des modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes mit Beginn der europäischen Renaissance. Zugleich geht Averroes in seinem abstrakten Modell von göttlicher Fürsorge von einer Feinabstimmung der physikalischen Gesetze zu Gunsten der Existenz menschlicher oder allgemein vernunftbegabter Wesen aus. Er stellt dabei nicht allein den Menschen in das Zentrum des Kosmos, sondern die abstrakte Vollkommenheit allen Seins, die die Existenz des Menschen beinhaltet, aber zugleich auch übersteigt. Dies wiederum kann verglichen werden mit aktuellen theistischen Positionen zum Verhältnis zwischen Glauben und moderner Naturwissenschaft, die die Naturgesetzlichkeit der Welt anerkennen und gleichzeitig von einem Schöpfergott im Sinne der abrahamitischen Tradition ausgehen.
These 7: Averroes ist ein Vertreter der Idee einer Weltform(el) als immateriellem und alle Formen elegant vereinheitlichendem Fundament der Natur
Die Metaphysik des Ibn Ruschd gipfelt in dem Versuch die Vielfalt der Formen und somit der Naturgesetze in der Welt auf abstrakter Stufe miteinander zu verbinden und zu vereinheitlichen, was ihn zur Idee einer einzigen vereinheitlichten Ur-Form (ṣūra ūlā) im Fundament der Natur führt, in der alle Formen in der Natur in vollkommener Einheit und Schönheit gedacht werden. Sein abstrakter Ansatz hat somit Parallelen zu bewährten modernen Konzepten der Einheit der Naturgesetze bis zur Suche nach der Weltformel. Für Averroes war die Idee einer Weltform leitend, während für große Teile der modernen Physik analog dazu die Idee einer Weltformel bzw. einer vereinheitlichten Feldtheorie leitend ist.
These 8: Eine Mathematisierung der Philosophie des Averroes weitet das Potenzial seiner Metaphysik für die moderne Naturphilosophie
Die von Ibn Ruschd beschriebene Idee der abstrakten Ur-Form kommt bei ihm ohne zentrale Rolle mathematischer Objekte aus. Seine Idee kann mit Blick auf die mathematisierte Grundlagenphysik der Gegenwart und aufgrund der vielen Parallelen zwischen den Merkmalen der Weltform des Ibn Ruschd und den modernen vereinheitlichenden Theorien der Physik mathematisiert bzw. neu gelesen werden. Geht man so weit als fundamentalste Formen in der Natur mathematische Strukturen zu setzen, dann klärt sich die grundsätzliche Frage, wie die Formen ganz am Anfang der physikalischen Dinge grundsätzlich vereinheitlicht werden können, da heute bereits zahlreihe erfolgreiche Vereinheitlichungen in Teilbereichen vorliegen, von denen die beiden erfolgreichsten das Standardmodell der Elementarteilchen sowie die Allgemeine Relativitätstheorie sind. Ferner könnte eine solche prinzipielle Bereitschaft zur Mathematisierung das averroesische Problem lösbar machen, wie das Verhältnis von Universalität und Singularität in Gottes Wissen gedacht werden muss. Schließlich bliebe noch die gegenwärtige Streitfrage zu diskutieren, ob die Formen der alltäglich geläufigen Phänomene einen Spezialfall bzw. besondere Umsetzungen der idealisierten mathematischen Vereinheitlichung darstellen, oder ob mathematische Strukturen einen Sonderfall innerhalb einer allgemeineren Klasse von Formen darstellen, die auch einige traditionelle Formen beinhaltet. Diese Frage setzt bei der Annahme an, dass es mit zunehmender Abstraktion von der Materie zu einer radikalen und eleganten Vereinheitlichung aller Formen kommen wird, wie es Averroes und viele Vertreter der heutigen physikalischen Grundlagenwissenschaft aus je unterschiedlicher Warte erwarten. Unter dieser Annahme wäre die letzte metaphysische Frage, ob Gott seine Schöpfung am Anfang aller Dinge über eine quantitative Weltformel, oder eine qualitative Weltform steuert – oder über eine Struktur, in der beides verbunden ist.
Wir wollen diesen Beitrag [137] mit einem zeitlosen Zitat des Andalusiers abschließen, das eine bescheidene Haltung gegenüber der eigenen Bemühung auf dem Weg der Wahrheitssuche nahelegt und zur kritisch-konstruktiven Zusammenarbeit aller Wahrheitssuchenden einlädt. Ibn Ruschd schreibt in seinem langen Kommentar zu De Anima:
„Da nun all dies so ist, scheint es mir angebracht niederzuschreiben, was ich darüber denke. Falls nun das, was mir klar geworden ist, nicht vollständig ist, so wird es doch der Beginn der Vervollständigung sein, und dann bitte ich die Brüder, die diese Schrift sehen, ihre Zweifel aufzuschreiben; vielleicht dass auf diese Weise die Wahrheit darüber gefunden wird, falls ich sie noch nicht gefunden habe. Falls ich sie gefunden habe, wie ich mir einbilde, dann wird sie durch jene Fragen weiter erklärt werden.“ [138]

Quellen
- Adamson, Peter (2019): Averroes on Divine Causation. In: Peter Adamson / Matteo Di Giovanni. Interpreting Averroes. Critical Essays. Cambridge: 198-217.
- Altaie, Basil (2023): Islam & Natural Philosophy. Principles of Daqīq al-Kalām.
- Arnzen, Rüdiger (Hg.) / Averroes (2010): Averroes on Aristotle’s „Metaphysics“. An Annotated Translation of the So-called „Epitome“. Berlin / New York.
- Barrow, John D. / Tipler, Frank (1986): The Anthropic Cosomological Principle. New York.
- van den Bergh, Simon (1924): Die Epitome der Metaphysik des Averroes. Leiden.
- Ben-Abdeljelil, Jamelededine (2005): Ibn Rushds Philosophie interkulturell gelesen. Nordhausen.
- Bigliardi, Stefano (2014): Islam and the Quest for Modern Science – Conversations with Adnan Oktar, Mehdi Golshani, Mohammed Basil Altaie, Zaghloul El-Naggar, Bruno Guiderdoni and Nidhal Guessoum.
- Bonitz, Hermann (Übers.) / Seidl, Horst (Hg.) / Aristoteles (2009): Aristoteles‘ Metaphysik. Bücher VII (Z) – XIV(N). Griechisch-Deutsch. Hamburg.
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